79. Filmfestspiele von Venedig: Gesellschaftliche Bomben
Nach zwei Jahren Abschirmung ist auch der Rote Teppich wieder umjubelt und jetzt noch mehr als für Cate Blanchett. Trotz sommerlicher Wärme, die in der direkten Sonne zur stechenden Hitze wird, haben sich Dutzende Teenies seit dem frühen Morgen mit Wasserflaschen und Sonnenschirmchen ausgerüstet, um sich die Pole-Position zu sichern.
Einige umlagern auch die abgeschirmte Schiffsanlegestelle des Hotels Excelsior und den Eingang, weil von hier aus alle VIPs ihren Gang zum Palazzo del Cinema antreten. So kann man also einen Augenblick beim Anlanden oder beim Einstieg in eine der E-Limousinen erhaschen. Denn der neue James Dean, Timothée Chalamet, ist da und hat am Abend seine Gala mit "Bones and All", gedreht von einem Italiener (Luca Guadagnino) für Hollywood, was in den Zeitungen stolz vermerkt wird.

Es ist schon beruhigend, wenn im Vorspann wieder der alte Metro Goldwyn Mayer-Löwe brüllt, anstatt dass ein hier bereits zigfach erschienenes rotes "N" für Netflix leuchtet. Absurd aber wirkt im Programmheft das Zeichen "14+", denn das heißt, dass der Film bereits ab 14 Jahren öffentlich zugänglich ist. In der Pressevorführung aber hatten bereits einige ihre Brillen abgenommen, um das, was man auf der Leinwand sah, nicht ganz so genau sehen zu müssen: Kannibalismus mit Haut und Haar, Knochen und allem.
Blutig romantisches Liebesdrama auch als beißende Sozialkritik
Denn die 18-jährige Maren (Taylor Russell) kann ihren Drang, Menschenfleisch zu essen, nicht länger unterdrücken. Sie und der gleichgesinnte Lee (Chalamet) werden ein Paar, das eine Blutspur hinter sich her zieht.
Das alles wäre billigster Horror-Trash, wenn nicht zwei Aspekte zu Hilfe kämen: erstens die surreale These des Films, dass es eine Art genetischer Fluch ist, für den der Perverse nichts kann. Und zweitens ist der Film ein Roadmovie durch das Innere der USA, abgehängte Landstriche, die Verwahrlosung hervorbringen - und beide jungen Aussteiger stammen denn auch aus einem abgestürzten Milieu aus dysfunktionalen Familien.
Und langsam dämmert es einem beim Zuschauen, dass der Kannibalismus - bei allem schockierendem Realismus - auch eine Metapher ist und genauso gut durch Drogenabhängigkeit und Beschaffungskriminalität ersetzt werden könnte, ohne dass sich etwas ändern würde. Und plötzlich sieht man dieses blutig romantische Liebesdrama auch als beißende Sozialkritik.
Die wird aber noch viel beißender, packender, erschütternder durchgespielt in "Athena" vom Franzosen Romain Gavras. Wenn man nach anderthalb Stunden völlig aufgewühlt und geschockt auf den Abspann blickt, sieht man beim Drehbuchautor den Namen Ladj Ly - und man erinnert sich an das Drama "Les Miserables", wo in einem migrantischen Vorort von Paris ein Kinderspaß zu einem Gewaltausbruch eines Häuserblocks führt - mit brennenden Barrikaden. Dieses soziale Pulverfass vernachlässigter Menschen in Vorstädten führt jetzt in "Athena" - nach dem Tod eines Jungen durch angebliche Polizeigewalt - zu einer Explosion, die keine "Unruhe" mehr ist, sondern ein Aufstand, ein Bürgerkrieg - alles so nah an der Realität, dass man nicht von einem Zukunftsfilm sprechen kann.
Drei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten
Die Kamera saust und tobt hautnah mit, erhebt sich zu Überblicksbildern über das Inferno. In größter psychologischer Kunst und genialer Konstruktion wird eine Brüdergeschichte erzählt - von einem, der den Aufstand will, einem, der bei der Polizei arbeitet und zwischen die Fronten gerät, sogar die Seiten wechselt, und einem, der als drogenzerrütteter Dealerboss durchdreht. Am Ende ist dem Zuschauer erschütternd klar, dass nur Respekt, Beteiligung und Chancen für Menschen am Rande die gesellschaftlichen Bomben entschärfen können. Vor Schock vergaßen die Zuschauer auch kurz nach dem Ende zu applaudieren, ehe es zu Begeisterungsstürmen kam.
Dagegen war ein sympathisches Alterswerk des Dokumentarfilmers Frederick Wiseman viel zu harmlos. "A Couple" ist der erste Spielfilm des 92-Jährigen. Erzählt wird über die 36-jährige Ehe Leo Tolstois mit seiner deutschstämmigen Frau Sophia, die gemeinsam 13 Kinder hatten, von denen neun überlebten.
Sanft feministisch ist der Film, weil er allein aus der Perspektive der Frau monologisierend über die Lebenshärte, Ehehölle, aber auch Liebe und Leidenschaft erzählt. Alles schön anzusehen, aber das macht den Film nicht spannender.
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