Filmfest in Venedig: Kino als Herausforderung
Filmfestivals kombinieren in ihren Wettbewerben um goldene Trophäen idealerweise zwei Komponenten, die oft in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen: Glamour und Kommerzialität einerseits und Außergewöhnlichkeit andererseits. "Tár ist genauso ein Film. Denn Cate Blanchett hat Hollywoodgröße mitgebracht, aber ihre Figur der Lydia Tár – einer Frau aus New York, die es als Dirigentin an die Spitze eines Berliner Toporchesters und damit an die Weltspitze schafft – hat einen herausfordernden Haken. Sie ist dem Zuschauer von der ersten bis zur letzten Sekunde nicht geheuer, wird zunehmend in ihrem kalten Ehrgeiz, der über psychische Leichen geht, unsympathisch.
Aber zuerst einmal mutet das Drama in der ersten von zwei Stunden und vierzig Minuten dem Zuschauer zu, Cate Blanchett in Interviews und Klassik-Fan-Talkrunden über die Interpretationsmöglichkeiten klassischer Musik intellektuell philosophieren zu hören: "Vergessen Sie Visconti", sagt sie witzig, wenn es um das Adagio aus Mahlers fünfter Symphonie geht, und am Lido wird um die "Tod-in-Venedig"-Verfilmung wissend im Publikum aufgelacht.
Und dann wirft Tár Lenny Bernstein vor, diese Symphonie missbraucht zu haben als Spiegel der Unmöglichkeit von Gustav Mahlers Ehe mit Alma, dabei stamme diese Komposition aus der Zeit "junger Liebe" und sei deshalb auch so zu interpretieren.
Cate Blanchett ist mal wieder oscarreif
Solche Exkurse sind aber weder fad noch lästig, weil Cate Blanchett derart intensiv erzählt, dass man gebannt dem Fachwissen ihrer Figur folgen will. Im Folgenden entfaltet sich dann ein psychologisches Drama um eine Erfolgsfrau, die durch Demütigungen, die sie in ihrer machtpolitischen Überheblichkeit ihrer Umgebung zufügt, die Opfer zu Gegenreaktionen provoziert.
Die Spitzendirigentin gerät in einen "Political Correctness"-Shitstorm, weil sie Johann Sebastian Bach gegen einen Dirigier-Studenten verteidigt, der diesen patriarchalischen, europäischen Cis-Mann nicht mehr spielen will. Und weil sie in den Zusammenhang des Selbstmordes einer Jung-Dirigentin gerät, mit der sie ein abgestrittenes Verhältnis hatte. Außerdem spielt sie noch ihre Assistenten gegeneinander aus und kränkt ihre Lebensgefährtin (Nina Hoss), die auch die Primgeigerin des Orchesters ist.
Das Kritikerpublikum hat US-Regisseur Todd Field damit bereits überfordert. Denn einerseits wollen hier viele natürlich nah am woken Zeitgeist sein, während man im Film die Political Correctness auch als beschränkend erlebt. Aber gleichzeitig kann man sich nicht mit der blitzgescheiten und intellektuell überlegenen, aber eiskalten Lydia Tár identifizieren, die dem Klischee nach als Frau und Lesbe aber eigentlich unterstützenswert sein müsste und eher auf der Opferseite wäre.
Genau aus diesen aktuellen moralischen Irritationen bezieht der Film – neben der oscarreifen Intensität Blanchetts – seine bannende Stärke. Der Weltverleih Universal Pictures wird mit "Tár" jedenfalls einen mutigen Film ins Kino bringen.
Kann man als Privilegierter über Migration sprechen?
Ob Alejandro Gonzáles Inárritus "Bardo - False Cronicle of a Handful of Truths" auch ins Kino kommt? Netflix hat die internationale Distribution der mexikanischen Produktionsfirma des Regisseurs ("Babel", "Birdman", "The Revenant") übernommen, aber auf einem Laptop kann man sich diesen Dreistünder beim besten Willen nicht vorstellen: Es gibt minutenlange Wüstenszenen, Luftaufnahmen, in denen man kleine Details entdeckt, wie dass zwischen Steinen und Büschen Kleidungsstücke im Sand liegen. Oder eine große Partygesellschaft in Mexiko Stadt, die den international erfolgreichen, kritischen Journalisten Silverio (Daniel Giménez Cacho als Alter Ego des Regisseurs) feiert.
Es geht um die Grundfragen der Emigration: Silverios Sohn ist bereits in den USA geboren, was daher seine Heimat ist. Er wirft seinem Vater, der sich journalistisch oft um das Schicksal von illegalen Migranten kümmert, als "Migrant erster Klasse" eine selbstentlastende Doppelmoral vor: Indem er über die Entrechteten berichtet, lenkt er von seiner Privilegiertheit ab.
Und Silverio selbst ist vielleicht auch deshalb besonders nostalgisch und patriotisch, weil er das schlechte Gewissen überspielt, sein Land verlassen zu haben. Das alles ist eine wirklich spannende Diskussion, die hier magisch-realistisch erzählt ist, weil Traum, Erinnerungen und Wirklichkeit ineinander spielen.
Auch dieser Film ist trotz seiner Länge keine Minute langweilig, aber eben auch ein großer Brocken – und vor allem eine Hommage an Mexiko als wildes, bizarres, aber eben auch menschliches Land. Und nachdem man sich hat staunend treiben lassen, fallen einem sogar viele Reminiszenzen ein – an Fellinis "Roma" und "Stadt der Frauen".
So ist dieses fantasievolle Werk hier im italienischen Spitzenfestival natürlich besonders gut aufgehoben. Ob sich aber ein deutscher Kinoverleih für diesen leicht grotesken und epischen Film interessieren wird?
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