Judo gegen die Feindschaft mit Israel: "Tatami" von Guy Nattiv
ein Kurzfilm "Skin" gewann 2019 einen Oscar. Die Spielfilmversion, die ebenfalls den Titel "Skin" trägt, wurde ebenfalls gefeiert und hatte in Venedig Premiere. Der aktuelle Film von Nattiv, "Golda - Israels eiserne Lady" lief gerade erst in den Kinos. Der Israeli lebt mittlerweile in Los Angeles. In "Tatami" hofft die Judoka Leila (Arienne Mandi) bei der Weltmeisterschaft in Tiflis auf eine Goldmedaille. Aus Angst, dass sie eventuell gegen eine Israelin antritt und verliert, untersagt ihr das Mullah-Regime weitere Kämpfe. Sie soll eine Verletzung vortäuschen und ausscheiden. Als sie sich weigert, gerät nicht nur sie unter Druck, sondern auch ihre Familie im Iran sowie ihre Trainerin. Diese Geschichte wollte der Israeli Guy Nattiv unbedingt mit einer iranischen Filmemacherin drehen und fand in Schauspielerin Zar Amir nicht nur die optimale Besetzung als Trainerin, sondern auch seine Co-Regisseurin.
AZ: Mr. Nattiv, nach "Skin" und "Golda - Israels Eiserne Lady" greifen Sie mit "Tatami" erneut ein politisches Thema auf. Woher kommt Ihr Interesse?
GUY NATTIV: Ich bin in den 70er Jahren aufgewachsen, da waren die Filme sehr politisch. Denken Sie an Sydney Pollacks Politthriller "Die 3 Tages des Condor", Martin Scorseses "Taxi Driver" oder "Alice lebt hier nicht mehr" oder Sidney Lumets "Network". In den 80er Jahren kamen die Oliver Stone-Filme dazu. Es herrschte die Auffassung, Geschichtenerzählen sei auch ein Statement. Man glaubte an Veränderung. Heute leben wir in einer verrückten Welt und wir Künstler haben wieder das Bedürfnis, etwas mitzuteilen über deren Zustand. Und nicht zu vergessen: Ich gehöre zur zweiten Generation der Holocaustüberlebenden. Ich bin immer mit der Wahrheit aufgewachsen, mit der grausamen Wahrheit meiner Großeltern und ihren Erzählungen. Das alles hat mich geprägt.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit der Iranerin Zar Amir? Das ist außergewöhnlich.
Es ist das erste Mal, dass eine Iranerin und ein Israeli einen Film gemeinsam realisieren. Ich habe "Holy Spider" gesehen und wusste, Zar Amir ist die Richtige für die Rolle von Maryam, der Trainerin. Und dann verstanden wir uns so gut, dass wir entschieden: Lass uns gemeinsam Regie führen. Das ist bei so einer iranischen Geschichte auch richtig.
Was haben Ihre Recherchen ergeben? Stießen Sie auf ähnliche Vorfälle, in denen iranische Sportler unter Druck gesetzt wurden?
Während der Judo-Weltmeisterschaften 2019 in Tokio drohte das iranische Sportministerium dem als Titelverteidiger und Favorit gestarteten Saeid Mollaei und seiner Familie mit Konsequenzen, sollte er sich nicht aus dem Wettbewerb zurückziehen, weil er möglicherweise im Finale gegen den israelischen Judoka Sagi Muki hätte antreten müssen. Seit Jahren sind iranische Sportler aufgefordert, Begegnungen mit israelischen Sportlern zu boykottieren. Mollaei "gehorchte" nicht, kämpfte weiter und verlor. Das Finale gegen Muki fand ohne ihn statt. Dem gratulierte er aber auf Instagram zum Sieg und setzte sich nach dem Turnier nach Deutschland ab. Das war der Ausgangspunkt. Aber da gab es noch andere Fälle wie mit der Bergsteigerin Elnaz Rekabi, die ohne Hidschab an Wettkämpfen teilnahm, und Kimia Alizadeh, eine Fechterin, die nach den Olympischen Spielen in Rio mit ihrem Mann erst in die Niederlande floh, dann nach Deutschland. Unsere Beraterin Sadaf Khadem, die erste iranische Boxerin, fand in Frankreich eine neue Heimat.
Warum haben Sie in schwarz-weiß gedreht?
Das Leben iranischer Frauen ist schwarz oder weiß. Du bist Verräterin oder Kollaborateurin, Bürgerin zweiter Klasse. Es fehlen die Grauzonen, die Farben dazwischen. Das Leben ist von oben geregelt, die einzelne Frau hat keine Optionen. Die schwarz-weiß Bilder lassen die klaustrophobische Stimmung spüren, dieses Gefühl des Gefangen-,, des Ausgeliefertseins.

Nach und nach wird die Trainerin als komplexe Figur wichtiger, man fühlt ihr Leid, ihre Hilflosigkeit, ihre Angst.
Anfänglich war die Rolle nicht so breit angelegt. Zar Amir hat das Skript geändert und sprühte nur so vor Ideen und hat mit ihren Vorschlägen dieser Frau eine besondere Tiefe verliehen. Einen Wahnsinnsjob hat aber auch Arienne Mandi als Judoka Leila hingelegt. Sie hat alle Judo-Szenen selbst gedreht und trat gegen echte Weltmeister-Judokas an. Wir hatten ein Riesenglück. Eine Schauspielerin, die Farsi spricht und als Judo-Meisterin und Athletin überzeugt, ist ein Sechser im Lotto.
Was ist der Hauptpunkt des Films: Der Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit, Grenzen überwinden, weibliche Durchsetzungskraft?
Alles. Wir erzählen die Geschichte von zwei starken und unabhängigen iranischen Frauen. So etwas sieht man im zensierten iranischen Kino nicht, da ist der Mann der Starke, der alles kontrolliert. Frauen erfüllen die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter. Ich wollte die moderne Iranerin zeigen, auch der Mann von Leila entspricht nicht dem von den Mullahs verkauften Klischee.
Stehen diese Frauen beispielhaft für die Kraft iranischer Frauen?
Die Trainerin gehört zu der etwas älteren Generation von Frauen, die weniger rebellisch sind. Leila repräsentiert die jüngere Generation, die sich auflehnt, durch Revolution Freiheit erreichen will. Ich finde es bewundernswert, wie diese Frauen auf der Straße ihren Hidschab verbrennen.
Haben die Kämpferinnen überhaupt eine Chance gegen das Mullah-System?
Wir befinden uns in der Mitte der Revolution, eine Prognose ist nicht möglich. Aber es ist das erste Mal, wo Menschen auf der Straße ihr Leben riskieren - Frauen wohlgemerkt. Da liegt ein Wechsel in der Luft, aber das geht nicht von heute auf morgen.
Was halten Sie von der westlichen Reaktion auf die Demonstrationen und die Gewalt der berüchtigten so genannten Sittenwächter? Hat sich nicht vieles in Lippenbekenntnissen erschöpft?
In den USA gab es großen Protest und auch in Frankreich eine große Unterstützung. Aber diese Frauen brauchen auf jeden Fall unsere Unterstützung, die darf nicht nachlassen.
Was ist von der Revolte geblieben?
Die Menschen ziehen sich in den Untergrund zurück, vor allem in den Kulturbereich und da speziell in der Musikszene mit Rap und Rock. Viele Künstler und Intellektuelle verlassen, wenn möglich, das Land. Ein trauriger Aderlass. Das Regime zerstört das eigene Land, verjagt die eigenen Leute. Früher konnten Israeli noch Urlaub im Iran machen und israelische Rockbands in Teheraner Clubs auftreten. Seit der Islamischen Revolution liegt beklemmendes Eis über dem Iran.
Könnte sich jetzt nach der Wahl eine Besserung abzeichnen?
Nein. Die Revolution muss von unten kommen, vom Volk. Die herrschende Kaste wird ihre Macht nicht abgeben. Wenn die Armee sich nicht auf die Seite der Revolutionäre stellt, sind die Chancen gering. Der Iran ist eine Quelle des Bösen, das Regime unterstützt Terrorgruppen von der Hisbollah über die jemenitische Huthi-Milizen bis zur Hamas.
Sie haben den Film nach dem Mord an der jungen Jina Mahsa Amini im September 2022 gedreht.
Ihr Tod machte das Thema noch brisanter. Wir erhielten während der Dreharbeiten in Georgien ständig Fotos und Nachrichten auf unsere Handys, konnten nicht glauben, was da auf den Straßen passierte. Diese Situation hat uns zusätzlich bestärkt, unseren zwei heldenhaften Frauen im Film stellvertretend für die vielen Unterdrückten eine Stimme zu geben.
Ihr Film "Golda Meir - Israels eiserne Lady" kam nach dem bestialischen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 in die Kinos und generierte dadurch zusätzliche Aufmerksamkeit.
Ich hätte nie gedacht, dass so etwas Grauenvolles passieren würde und ziehe eine Parallele zum Yom-Kippur-Krieg, der am 6. Oktober 1973 mit Ägyptens Überraschungsangriff begann und Tausenden von Menschen das Leben kostete. Das Versagen des israelischen Sicherheitsapparates und daraus folgend die Hilflosigkeit in den ersten Kriegstagen, bohrte sich ins kollektive Gedächtnis und blieb ein unbewältigtes Trauma. Das Trauma nach dem Massaker durch die Hamas ist 1000 Mal schlimmer.
Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation in Israel?
Die Regierung müsste geschlossen zurücktreten. Wir brauchen eine neue Führungsstruktur und neue verantwortungsbewusste Politiker. Der frühere Verteidigungsminister Benny Gantz, der das Kriegskabinett verlassen hat, wäre eine Alternative. Er hat keine Angst, Frieden zu schaffen. Die Hamas ist dabei aber kein Verhandlungspartner. Wir müssen mit moderaten Palästinensern Gespräche führen, die den Willen zum Frieden haben. Beide Parteien müssen aufeinander zugehen. Sonst sehe ich schwarz für die Zukunft, auch für die des palästinensischen Volkes. "From the River to the Sea"? Nie und nimmer! Israeli können nirgends hingehen, wir müssen diesen Platz "Israel" verteidigen. Eine friedliche Nachbarschaft muss aber möglich sein. Anwar as-Sadat wollte 1973 Israel von der Landkarte fegen und führte Ägypten in den Yom-Kippur- Krieg. Und was geschah 1978? Die Camp-David-Verhandlungen führten zum israelisch-ägyptischen Friedensvertrag. Wir dürfen die Hoffnung also nicht aufgeben.
Aber wenn Iran weiter den Terror in der Region fördert?
Der Terror wird nicht verschwinden, aber ich setze auf Jordanien, Ägypten, Saudi Arabien und die USA. Die moderaten Länder sind jetzt gefragt, sie wollen ja dem Iran nicht die Herrschaft in der Region überlassen.
- Themen:
- Hamas
- Martin Scorsese