Christian Seidel: "Wir reden über Halsschmerzen, aber nicht über Orgasmen"

Christian Seidel lebte mehr als ein Jahr lang als Frau, seine Erfahrungen beschreibt der ehemalige Manager von Claudia Schiffer in seinem Buch "Die Frau in mir".
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Berlin - Christian Seidel arbeitete lange Zeit erfolgreich als Filmproduzent sowie als Berater und Manager für Medienkonzerne und Persönlichkeiten wie Claudia Schiffer (43). Inzwischen widmet er sich ganz dem Schreiben: In seinem Buch "Die Frau in mir: Ein Mann wagt ein Experiment" beschreibt er seine Erfahrungen als Frau. Mehr als ein Jahr ging er unter anderem mit künstlichen Brüsten, High-Heels, Nylons und Minirock auf die Straße. Wie gefährlich das für ihn wurde, warum er Männer nicht mehr mag und was seine Ehefrau dazu sagt, erzählt er der Nachrichtenagentur spot on news im Interview.

Das Buch "Die Frau in mir: Ein Mann wagt ein Experiment" von Christian Seidel gibt es hier

Herr Seidel, wie waren die Reaktionen auf Ihr Buch bisher?

Christian Seidel: Sehr gut. Zuerst dachte ich, ich werde in der Luft zerrissen als jemand, der ein perverses Verbrechen begangen hat. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt. Jetzt bin ich überwältigt von der interessierten und eher positiv ausgerichteten Resonanz. Aber hier muss man natürlich wieder unterscheiden zwischen Männern und Frauen: Männer reagieren oft mit fassungslosem Unverständnis und plumpen Bemerkungen.

Die Kernaussage in Ihrem Buch ist: Männer sind nicht frei, weil sie ständig ihre Männlichkeit beweisen müssen. Wird sich das je ändern?

Seidel: Das ist meine große Hoffnung. Diese Manie des Männlichkeit-Beweisens basiert nur auf einer stereotypen Regel: die Weiblichkeit auszugrenzen. Männer müssen immer wieder zeigen, dass sie männlich sind und nicht weiblich. Wenn das wegfallen würde, könnten Männer viel authentischer sein, viel vollständiger. Dann würde auch ein weiteres großes Problem wegfallen, nämlich dass Frauen immer den Mann suchen, der schwach und stark zugleich ist. Männer könnten dann einfach Mensch sein.

Frauen erfahren in Ihrem Buch interessante Dinge, zum Beispiel, warum Männer fremdgehen oder wie ein Mann einen Orgasmus empfindet. War es schwer für Sie, über solche Dinge zu sprechen und zu schreiben?

Seidel: Das war am Anfang sehr schwer für mich. Aber ich habe gemerkt, wenn ich über meine Erfahrung als Frau spreche, komme ich sehr schnell zu meinem Intimleben. Ich habe über meine ersten sexuellen Erfahrungen nachgedacht. Und da ist mir aufgefallen, dass in den vielen Beziehungen, die ich mit Frauen hatte, nie wirklich über Orgasmen oder Sex gesprochen wurde. Das war immer eine selbstverständliche Sache, die man einfach macht und können muss. Wir reden darüber, wie sich Halsschmerzen anfühlen, aber nicht, wie man einen Orgasmus empfindet. Als wir uns in unserer Damenrunde darüber unterhalten haben, ist mir aufgefallen, wie offen man mit Frauen auf Augenhöhe drüber sprechen kann. Und mir ist bewusst geworden, dass sich das Gefühl gar nicht so sehr voneinander unterscheidet.

Sie haben nicht nur mit Freundinnen gesprochen, sondern auch mit Ärzten, waren unter anderem sogar beim Gynäkologen. Die Ärzte haben Sie gewarnt, dass Sie Ihre Identität verlieren könnten. Hatten Sie keine Angst?

Seidel: Es gab eine Phase, nach den ersten Monaten, da habe ich wirklich große Angst bekommen. Ich habe mich völlig identitätslos gefühlt. Meine Männeridentität ist mir entglitten und ich war mir nicht sicher, ob ich vielleicht nicht doch einen transsexuellen Ansatz habe. Nach einer Weile habe ich aber gemerkt, dass mir nichts passiert. Es waren immer Frauen da, die sehr viel Interesse zeigten und deren Anzahl ist immer größer geworden.

Zahlreiche männliche Freunde haben Sie dafür während Ihres Experiments verloren. Gab es im Nachhinein mal eine Entschuldigung?

Seidel: Nein, nichts. Nur Rechthaberei. Mit den Männern bin ich mittlerweile auf Kriegsfuß. Ich äußere mich deswegen auch so kategorisch. Wenn ich einräumen würde, dass es Ausnahmen gibt, würden sich alle Männer zu dieser Ausnahme zählen. Gleichwohl gibt es natürlich schon eine Gruppe von Männern, die verstehen, was ich mache.

In Ihrer Zeit als Christiane hatten Sie auch ziemlich schlimme Erlebnisse mit Männern, wurden in einem Park fast vergewaltigt. Mögen Sie Männer noch?

Seidel: Nein. Ich habe wirklich Probleme damit. Ich habe generell eine Art Vorsichtshaltung eingenommen gegenüber Männern. Ich muss mir mein Verhältnis und meine Beziehung zu Männern wieder neu erarbeiten.

Konnten Sie sich Ihre innere Frau nach Ende des Experiments bewahren?

Seidel: Die ist lebendiger denn je. Das empfinde ich als Teil meines Wesens, meines Charakters. Es ist die Stimme meiner Intuition, meines Bauchgefühls und die hat jeder Mann. Aber sie folgen ihr nie. Wir sind immer auf den Verstand ausgerichtet und von dieser Perspektive aus lenken wir die Welt. Und damit sind wir meines Erachtens nach so kläglich gescheitert, dass es an der Zeit wäre, dass die Frauen das Ruder komplett übernehmen. Wir diskutieren jahrelang über eine Frauenquote, obwohl es das Selbstverständlichste der Welt wäre. Es sollte eher umgekehrt sein, dass die Männer ein paar Schritte zurückweichen und den Frauen Platz machen.

Sie tragen weiter Nylons, haben Sie auch Ihre Frauenkleider noch zu Hause?

Seidel: Ich habe von einem Gericht gekostet, das mir sehr gut schmeckt und habe mich daran satt gegessen. Ich werde das aber sicherlich immer mal wieder machen. Ich habe auch ein paar Freundinnen, die mich nur als Frau kennen. Die Kleider sind noch im Kleiderschrank und wenn ich mal Lust habe, hole ich sie wieder raus.

Ihre Ehefrau war zunächst nicht besonders begeistert...

Seidel: Nein, überhaupt nicht. Am Anfang gab es eine schwierige Phase. Sie hatte Angst, dass sie mich verliert und ich nicht mehr der Mann sein würde, den sie geheiratet hat. Sie hat dann aber irgendwann gemerkt, dass dieser Mann noch da ist, es ist nur ein Stück dazugekommen. Jetzt sind wir viel relaxter miteinander, auch viel mehr auf Augenhöhe, viel emotionaler.

Als Medienmanager haben Sie früher genau die Rollenbilder zwischen Mann und Frau, die Sie jetzt kritisieren, an die Öffentlichkeit getragen. Sehen Sie heute Shows wie Heidi Klums "Germany's next Topmodel" mit anderen Augen?

Seidel: Diese Shows sind entsetzlich. Ich finde, das ist ein Verrat an unserer Kultur. Das ist im ethischen Sinne fast kriminell, wenn jungen Frauen solche Rollenbilder und so ein Klamauk für Wahrheit verkauft wird. Im Modelgeschäft geht es erstens überhaupt nicht so zu, wie es hier dargestellt wird. Zweitens ist das Business rund um Models völlig überschätzt. Es handelt sich dabei um einen Knochenjob, bei dem weibliche Klischees produziert werden, dafür werden junge Frauen auf schlimme Art und Weise ausgebeutet. Die Konsumentinnen der Zeitschriften und Werbekampagnen sehen dann nur noch eine Illusion von einem Traumklischee, das nur noch aus rudimentären Eckpfeilern des Frauseins besteht: Frau muss schön sein, schlank sein, immer die aktuellste Mode tragen und: Männern gefallen. Das Letztere ist der Gipfel einer Unart, die ich in meinem Buch beschreibe. Ich nenne sie "Ausgrenzung von Weiblichkeit". Sie wird von Männern für die Erhaltung ihrer männlichen Rollenidentität betrieben.

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