Wenn Eifersucht toxisch wird
München — Seinen Einstand als Ballettchef feierte er schon vor neun Jahren mit einer gelungen-eigenwilligen Neudeutung von Tschaikowskys "Dornröschen". Nun widmet sich Karl Alfred Schreiner mit "Giselle" zur Musik von Adolphe Adam zum dritten Mal einem weltbekannten und zugleich urromantischen Ballettreißer - auf ganz pragmatisch-individuelle Weise. Die Kostüme stammen vom Münchner Modelabels Talbot Runhof.
AZ: Herr Schreiner, allein in Deutschland kommen in dieser Spielzeit sieben Neuadaptionen heraus. Was macht das Stück heute so interessant?
KARL ALFRED SCHREINER: Noch vor der Pandemie hatte ich "Giselle" für den Herbst 2020 geplant, bin dann aber - bereits vor Bekanntwerden der strengen Produktionsregeln - auf "Undine - Ein Traumballett" gewechselt. Ein Stück über das Nicht-Zueinander-Kommen-Können unter abstandsdiktierten Bedingungen zu erarbeiten, erschien mir eher machbar. Giselles intime Beziehungsgeschichte zu erzählen, fand ich dagegen unvorstellbar. Also habe ich meine Idee für diesen dritten Klassiker, den ich in meiner Ära hier unbedingt machen wollte, einfach aufgeschoben.
Ein Klassiker - menschlich erzählt
Mein Eindruck ist, dass Sie sehr menschlich an den Stoff herangegangen sind.
Ich habe mich vor allem auf das konzentriert, was mit Giselle passiert und was in ihrem Kopf vorgeht. Damit ist es mir gelungen, die Geschichte zu vereinfachen und zugleich psychologisch komplexer zu machen. Bei mir ist nicht wichtig, ob Albrecht ein Prinz ist, oder dass er sich für etwas ausgibt, was er nicht ist. Stattdessen erzähle ich von einem Burschen, der schlicht zu spät zum Stelldichein kommt. Und Giselle malt sich sonst was aus, wo er abgeblieben sein könnte.
Verzichten Sie auf die sonst übliche Entourage wie die der Eltern von beiden Liebenden?
Mir geht es nicht nur um junge Leute per se. Ich wollte eine Liebesbeziehung, die so ihre Schwierigkeiten hat, in einen gesellschaftlichen Kontext stellen. Es gibt ja in jeder Beziehung einen privaten und einen öffentlichen Raum - damit habe ich mich sehr beschäftigt. Die Tragik der Giselle liegt meiner Meinung nach auch darin, dass ihre Situation öffentlich gemacht wird.
Realität oder Fantasie?
Erwartet die Zuschauer Kopfkino oder ein Betrug?
Man kann sich gut vorzustellen, dass alle Situationen - so geradlinig, wie ich versucht habe sie zu erzählen - real stattgefunden haben könnten. Am Schluss wird jedoch hoffentlich deutlich werden, dass sich alles so nur in Giselles Kopf abgespielt hat.
Ist Giselle bei Ihnen so eifersüchtig, dass sie sich selbst in den Wahnsinn treibt?
Wir haben sehr an der Deutungsspannung dieser Szenenzweideutigkeit von Realität oder Einbildung gearbeitet. In der Liebe geht es häufig vergleichbar ambivalent zu. Eben diese Schattierungen, die eine Beziehung womöglich durchläuft, interessierten uns besonders. Eifersüchtig zu sein, kann was Schönes sein, weil es eine Bestätigung beziehungsweise Wertschätzung für den anderen bedeutet. Krankhafte Eifersucht ist innerhalb einer Beziehung toxisch. Und genau darum geht es. Um in den Wahnsinn getrieben zu werden, müssen die Emotionen schon immens sein. Letzten Endes will ich aber nicht erzählen, dass Albrecht etwas Heftiges gemacht hat, sondern dass Giselle sich höchst Drastisches vorstellt.
Eifersucht und Wahnsinn liegen nah bei einander
Alles sich um die Empfindungen der Titelfigur?
Das ist es, was mich an der Geschichte fasziniert. Giselles Abdriften in den Wahnsinn nimmt auch musikalisch im ersten Teil viel Raum ein. Für mich die zentrale Stelle des Stücks. Verfällt jemand dem Wahnsinn, müssen diejenigen rundherum gar nicht unbedingt etwas falsch gemacht haben. Das Umfeld kann sich sogar völlig richtig verhalten haben. Die Mitmenschen werden mit einem Zustand konfrontiert, in dem die fragliche Person einfach nicht mehr zugänglich ist.
Gibt es - dennoch - ein Happy End?
Ja. Giselle stellt sich zwei Akte lang das Düsterste vor, will Albrecht fast umbringen. Dann ist es dazu einfach zu spät. Die spirituelle Ebene habe ich damit von Anfang drin im Stück. Giselle fantasiert und denkt sich in eine Gruppe gleichgesinnter Menschen hinein, die Rache nehmen wollen an dem einen Geschlecht.
Mordlust und Happy End
Wie kommen die Wilis ins Spiel?
Ich habe mich immer gefragt, warum Myrtha die Chefin der Wilis ist. Sie hat ein Interesse daran, möglichst viele Mädchen und Frauen in ihrer mordlüsternen Clique zu haben. Im Originallibretto sind ja beide - Giselle und Bathilde, die ich zu einer Doppelrolle zusammenfasse - zuerst ahnungslos und sich freundschaftlich zugetan. Dann deckt Hilarion den Betrug Albrechts an beiden auf. Und dann ist da noch diese Myrtha. Um ein bisschen in Giselles Kopf aufzuräumen, habe ich meinen Figurenkanon recht klein gehalten. Das Publikum sollte dem Plot leicht folgen können, auch wenn man das Stück noch gar nicht kennt.
Premiere am 17. November. Weitere Vorstellungen am 19. und 30.11., 19.30 Uhr, Karten unter Telefon 089 21851960
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