"Vögel" im Metropoltheater: Der lange Tisch zwischen uns

Jochen Schölch inszeniert "Vögel" von Wajdi Mouawad im Metropoltheater.
Michael Stadler |
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Wahida (Magdalena Laubisch) liebt Eitan (Leonard Dick), rechts Hubert Schedlbauer.
Wahida (Magdalena Laubisch) liebt Eitan (Leonard Dick), rechts Hubert Schedlbauer. © Jean-Marc Turmes

München - Ein Tisch steht auf der Bühne des Metropoltheaters. So übermäßig lang ist er, dass sich unüberwindlich scheinende Distanzen zwischen Menschen ergeben können. Frontal zum Publikum, an den entferntesten Ecken sitzen einmal Vater und Sohn bei einem Familientreffen. Der Vater, David, ist erbost, weil sein Sohn, Eitan, sich in die arabischstämmige Wahida verliebt hat. Eine Kluft zwischen zwei Generationen klafft da in ihrem Zwist auf. Dahinter lauert die Kluft zwischen zwei Religionen.

"Unseren Genen ist unser Dasein egal!

Der Hass auf die Araber ist dem gläubigen Juden David tief eingeschrieben, sein Sohn Eitan jedoch ist ein Biogenetiker, der nicht daran glaubt, dass die Traumata der Vergangenheit sich in die DNA einprägen: "Unseren Genen ist unser Dasein egal!" sagt er und beharrt auf seiner Liebe zu Wahida, die er in einer New Yorker Unibibliothek kennengelernt hat. Der Tisch, den Bühnenbildner Thomas Flach mitsamt ein paar Stühlen auf ein mit ascheartigen Partikeln bedecktes Rund gestellt hat, passt auch ins Bibliotheksambiente, wird dann zur Tanzfläche für Wahida, die Eitan den Kopf verdreht. Nach der Pause ist der Tisch vertikal gestellt, stellt einen Steg zum Meer dar oder bleibt ein Tisch, an dem Positionen verhandelt und innere Distanzen äußerlich zur Anschauung kommen.

Auf dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts hat der libanesisch-frankokanadische Autor und Regisseur Wajdi Mouawad sein Stück "Vögel" entwickelt. Dabei erzählt er sowohl von einem Liebespaar in der Tradition von Romeo und Julia als auch von einer Identitätssuche, die eine ganze Familie betrifft und zu verblüffenden Ergebnissen führt.

Sehr viel Zeit lässt Mouawad sich, bis das zentrale Geheimnis gelüftet wird, wobei man es doch schon recht früh erahnen kann. Zudem lässt er seine Figuren in Monologen ihre Biographien und Gedanken arg ausführlich ausbuchstabieren.

Stück ist ein guter Ansatzpunkt um über den Krieg nachzudenken

Nichtsdestotrotz ist sein Stück ein guter Ansatzpunkt, über den Nahost-Konflikt, aber auch den Krieg in der Ukraine nachzudenken. Als historisches Beispiel für den steten Fluss religiöser Identitäten dient Mouawad die 500 Jahre alte Geschichte des arabischen Rechtsgelehrten al-Hasan Ibn Mohamed al Wazzan, der einst gefangen genommen und Papst Leo X. als Geschenk überreicht wurde. Wahida will für ihre Doktorarbeit herausfinden, ob er nicht zum Schein zum Christentum konvertierte. Auf der Bühne taucht er zweimal in Gestalt von Gerd Lohmeyer auf. Der spielt den Geist mit hintergründigem Schalk und wird auch mit einigem Witz als über den Dingen schwebender Weiser in Szene gesetzt.

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Unter der Regie von Jochen Schölch ist ein klug entschlacktes, packendes Drama entstanden, bei dem die Darstellenden bis in die Nebenrollen (darunter Anna Graenzer und Hubert Schedlbauer) glänzen. Bei der Besetzung hat Schölch dabei auf augenscheinliche Identitäten bewusst gepfiffen. Magdalena Laubisch etwa entspricht als Wahida ganz und gar nicht dem äußeren Bild, das man sich von einer jungen arabischen Frau machen könnte. Sie ist die emotional einnehmende Entdeckung dieser Inszenierung. Ihr gegenüber ist Leonard Dick als Eitan ein hübsch verhaltener Wissenschaftler, der zum stark gestikulierenden Nerd wird, wenn es um die 46 Chromosomen und die Magie des Zufalls geht.

Ein palästinensischer Anschlag, bei dem Eitan lebensgefährlich verletzt wird, bringt die auseinander gesprengte Familie vorübergehend zusammen und aus der Ruhe, in die Konfrontation. Sarah Camp begeistert als patente, auch derbe Großmutter Leah; Wolfgang Jaroschka hat als Großvater Etgar einen großartigen Moment, wenn er ganz trocken und eindringlich das Familiengeheimnis in der Erzählung auflöst. Anastasia Papadopoulou vereint als Eitans Mutter Norah einige Identitäten in sich, ist eine Psychologin ostdeutschen Ursprungs, die heiter in den psychologischen Jargon verfallen kann, wenn sich nicht gerade an den Verwerfungen und Zwistikgeiten in der Familie mitbewegend verzweifelt.

Der größte Hass richtet sich letztlich immer gegen einen selbst  

Das größte Drama macht aber David durch, Eitans Vater, von Michele Cuciuffo mit brillanter Präsenz gespielt. Großartig, wie gegen Ende allein in seinen Augen abzulesen ist, wie da eine Erkenntnis in David dämmert: Dass auch die tiefsten Überzeugungen von einem Moment auf den anderen über den Haufen geworfen werden können und der größte Hass sich letztlich immer gegen einen selbst richtet.

Wajdi Mouawads Stück ist eines der Zeitsprünge und Metamorphosen, bis hin zu der wohlmeinenden Utopie, dass Vögel und Fische sich zu einem Wesen vereinen können. Jochen Schölch gibt sich mit seinem Team diesem Hybrid aus politischem Lehrstück und Märchen hin und schafft dabei gekonnte Übergänge. Einmal erinnert sich David an seine Kindheit, wird wieder zum Kind. Als Katapult in die Vergangenheit hat ihm die Regie in der Pause einen Fußball auf einen Stuhl gelegt. Schöner Spielzug.

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