Sapir Heller: "Aber manche Tiere sind gleicher"

Sapir Heller über ihre Inszenierung von Orwells "Animal Farm" am Volkstheater.
Volker Isfort
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Kuh Marie (Maral Keshavarz, links), Pferd Boxer (Jan Meeno Jürgens), Schwein Napoleon (Anne Stein) und Schaf Dolly (Silas Breiding) haben den Bauern verjagt.
Kuh Marie (Maral Keshavarz, links), Pferd Boxer (Jan Meeno Jürgens), Schwein Napoleon (Anne Stein) und Schaf Dolly (Silas Breiding) haben den Bauern verjagt. © Judith Buss

Nähert man sich dem neuen Volkstheater mit dem Bus, ist Orwell schnell präsent. Gegenüber der Haltestelle in der Tumblingerstraße gibt es riesige Graffiti: "2 + 2 = 5", "Neusprech", "1984". Ein paar Meter weiter steht Orwell nun auf dem Spielplan mit seiner Parabel "Animal Farm" über Stalins Verrat an den Idealen der russischen Revolution und seinen totalitären Machtmissbrauch.

Orwell schrieb die Erzählung von November 1943 bis Februar 1944 und fand zunächst keinen Abnehmer. Vielen Verlegern in England war das Thema politisch zu heikel, schließlich war Stalin noch Churchills Verbündeter im Kampf gegen Hitler. Im Volkstheater inszeniert nun Sapir Heller den Kampf auf der Farm der Tiere, die ihren Bauern vertreiben, um selbst ihr Geschick in die Hand zu nehmen. Die Premiere ist am Samstag.

Die 1989 in Israel geborene Regisseurin Sapir Heller studierte an der Theaterakademie August Everding und inszenierte zuletzt am Volkstheater "Amsterdam" und "Das hässliche Universum".
Die 1989 in Israel geborene Regisseurin Sapir Heller studierte an der Theaterakademie August Everding und inszenierte zuletzt am Volkstheater "Amsterdam" und "Das hässliche Universum". © Stefan Loeb

AZ: Frau Heller, wäre nicht eigentlich Orwells "1984" das näherliegende Projekt gewesen?
SAPIR HELLER: "1984" wäre natürlich auch unbedingt inszenierenswert gewesen, aber "Animal Farm" hat eine lange Vorgeschichte. Die Inszenierung war schon vor Corona angedacht. Ich hatte auch schon mit einer Dramaturgin ein Konzept erarbeitet, wir waren aber rechtlich sehr angebunden an die bestehenden Spielfassungen, die ich nicht so gut fand. Durch Corona wurde alles verschoben, inzwischen ist "Animal Farm" mehr als 70 Jahre nach dem Erscheinen rechtefrei und man kann nun ganz frei mit dem Text umgehen. Das ursprüngliche Konzept habe ich verworfen. Mich interessiert das Thema Gleichheit, ein zentraler Aspekt des Stücks. Die wichtigste Regel nach der Übernahme der Farm heißt: Alle Tiere sind gleich.

Die Schweine korrumpieren später die Regel und fügen hinzu: "Aber manche Tiere sind gleicher."
Wenn man nicht gleich ist, also anders ist, dann gilt das ja immer in Bezug auf eine bestimmte Gruppe. Und wenn wir über Integration sprechen, dann müssen wir auch darüber reden, wer sich zu wem integrieren soll, wer gibt den Maßstab vor? Es bleibt in unserem Stück erkennbar, dass "Animal Farm" eine Parabel über die russische Revolution ist. Das sprechen wir in der Inszenierung auch an. Aber das allein wäre für mich nicht erzählenswert genug. Wir machen ja keinen Geschichtsunterricht. Für mich ist das auch ein Stück über Selbstorganisation, Gruppendynamik und wie man als Gesellschaft wirklich handeln muss, wenn man etwas ändern will.

Der Ansatz der Gleichheit ist von Anfang an falsch

Die Tiere vertreiben Mr. Jones und übernehmen die Farm. Aber ihre realen Lebensumstände verbessern sich kaum. Und bald geht es bergab.
Die Tiere behalten das gleiche Ziel der Produktion bei, sie behalten eine bestimmte Hierarchie, weil sie einfach nicht alle gleich sind. Boxer, das Pferd, ist beim Bau der Mühle einfach stärker als ein Huhn. Der Ansatz der Gleichheit ist also von Anfang an falsch und es ist fast eine natürliche Folge, dass die Schweine als die intelligentesten Tiere die Macht übernehmen.

Wurden Sie auch in der Schule mit dem Stück konfrontiert?
Nein, ich bin in Israel aufgewachsen und erst mit knapp 20 Jahren nach Deutschland gekommen. Aber ich habe natürlich mitbekommen, dass "Animal Farm" in vielen Oberstufen- oder Abiklassen behandelt wird. Wir eröffnen das Stück auch so. Wir haben einen echten Hund auf der Bühne, der live synchronisiert als Erzähler fungiert. Und gleich zu Beginn fragt er, wer das Stück fürs Abi gelernt hat.

 

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Die bekannte Verfilmung des Stoffes wurde von der CIA finanziert. Sie hat aus propagandistischen Gründen ein anderes Ende. Welche Version war für Sie maßgeblich?
Ganz klar das Buch, auch wenn wir ebenfalls leichte Eingriffe in die Geschichte und ihr Ende vorgenommen haben. Mir ist sehr wichtig herauszustellen, dass die Tiere versuchen, etwas zu ändern, dass diese Revolution für sie wirklich eine Hoffnung bedeutet. Der Versuch ist wichtig. Ich habe den Moment, wo es wirklich kippt, wo die Schweine ganz klar die Bösen sind, möglichst nach hinten geschoben, um dem Glauben an ein besseres Modell mehr Platz einzuräumen.

Figuren werden von der falschen Seite vereinnahmt

Am Eingang der BBC in London stehen heute ein Orwell-Denkmal und sein berühmter Satz: "Freiheit ist das Recht, den Leuten zu sagen, was sie nicht hören wollen." In den letzten Jahren wird Orwell von Leuten vereinnahmt, denen er sich niemals angeschlossen hätte.
Das passiert doch ständig, dass Figuren von der falschen Seite vereinnahmt werden, auch und gerade in der Musik, Literatur, Popkultur. Aber Orwell hat zu einer bestimmten Zeit gelebt und in einem bestimmten Kontext geschrieben, mit seinem damaligen Wissen. Das Schwein Schneeball, mit dem Orwell auf Trotzki anspielt, kommt bei ihm beispielsweise fast als Pazifist rüber, bevor es von Napoleon vertrieben wird. Das war in Wahrheit nicht der Fall: Auch Trotzki hat Gewalt unterstützt. Für unsere Inszenierung ist mir die Figur Orwell nicht wichtig. Ich nehme diese Erzählung als Vorlage und schaue, was mich jetzt in unserer Gesellschaft daran interessiert.

Ein Problem bei Inszenierungen von "Animal Farm": Tiermasken. Oder nicht?
Ich möchte jede biedere Ästhetik vermeiden, das Stück wird bei uns schon ein bisschen punkiger. Natürlich sind die Schauspieler Tiere, aber ohne Masken und vor allem ohne Tiergeräusche. Es gibt keine Holzscheune, es liegt auch kein Stroh auf der Bühne.

"Animal Farm" ist trotz der düsteren Geschichte ein Buch mit sehr lustigen Stellen, angeblich auch ein Verdienst von Orwells erster Frau Eileen, die großen Einfluss auf das Buch hatte.
Die ersten zwei Drittel unserer Inszenierung sind sehr humorvoll, die Schauspieler und ich haben bei den Proben unglaublich viel gelacht. Aber darin liegt auch die Brutalität, denn nach Schneeballs Vertreibung kippt das Stück und es wird düster.

Es ist Ihre erste Arbeit am neuen Volkstheater, das alte in der Brienner Straße kannten Sie gut. Wie ist Ihr Eindruck?
Es gibt jetzt auf der großen Bühne viel mehr Möglichkeiten. Aber alles, was die große Bühne technisch kann, kann die Probebühne nicht, die Diskrepanz ist viel größer als im alten Haus. Wir proben also immer so "als ob", daran muss man sich gewöhnen. Aber die familiäre Atmosphäre, das Miteinander und der Teamgeist der sehr jungen Mitarbeiter sind auch im neuen Volkstheater so geblieben.


Volkstheater, Premiere am 12. Februar, weitere Aufführungen am 19., 25. und 26. Februar, 2., 7., 16., 17., 23. und 24. März;
Karten unter Telefon 523 46 55

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