Interview

Regisseurin im Interview: Das Erbe des Anschlags von Mölln

Pinar Karabulut über das "Das Erbe" von Nuran David Calis in den Kammerspielen.
Anne Fritsch |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
"Das Erbe" von Nuran David Calis in den Kammerspielen.
"Das Erbe" von Nuran David Calis in den Kammerspielen. © Krafft Angerer

München — In der Nacht auf den 23. November 1992 verübten zwei Neonazis in Mölln einen Brandanschlag auf das Haus der Familie Arslan. Die 51-jährige Bahide Arslan, die zehnjährige Yeliz und die vierzehnjährige Ayse kamen ums Leben, neun weitere Familienmitglieder wurden schwer verletzt. Nuran David Calis greift dieses rechtsradikale Verbrechen nun in seinem Stück "Das Erbe" auf, das am 30. Jahrestag an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wird.

AZ: Nuran David Calis verknüpft in seinem Stück den Brandanschlag in Mölln mit einer fiktiven Familiengeschichte. Der Titel "Das Erbe" bezieht sich zum einen auf das Unternehmen, das der fiktive Familienvater Murat seiner Familie hinterlässt, zum anderen aber auch auf unsere Verantwortung im Umgang mit rechter Gewalt.
PINAR KARABULUT: Absolut richtig. Wir steigen unmittelbar nach der Beerdigung des Vaters in die Geschichte ein. Die Mutter und ihre drei erwachsenen Kinder kommen nach Hause. Die Kinder leben in der Welt verstreut, in Istanbul, London und München, und haben nicht das engste Verhältnis zu einander.

Fehler auf Seiten der Medien 

Erst am späten Abend erfahren sie von dem Brandanschlag, der bereits um Mitternacht stattgefunden hat. Diese Nachricht kam 1992 tatsächlich aufgrund anderer Priorisierung erst mit deutlicher Verspätung in die mediale Öffentlichkeit. Es wurde auch zuerst vermutet, dass es sich um eine Familientragödie handelt, dass der Vater selbst einen Molotow-Cocktail geworfen habe. Und das, obwohl es einen Anruf bei der Feuerwehr gab, bei dem jemand die Worte "Heil Hitler" ausgesprochen hat.

Zeynep Bozbay, Mehmet Sözer, Edith Saldanha, Sema Poyraz und Elmira Bahrami in "Das Erbe".
Zeynep Bozbay, Mehmet Sözer, Edith Saldanha, Sema Poyraz und Elmira Bahrami in "Das Erbe". © Krafft Angerer

Was löst diese Nachricht in der Familie aus?
Sie haben keinen Raum mehr für die Trauer über den Verlust ihres Vaters, sie müssen sich dazu verhalten, sich fragen: Was ist unsere Position in diesem Land? Sie müssen sich also auf verschiedenen Ebenen miteinander auseinandersetzen: mit dem Erbe des Vaters und dem politischen Erbe, das ihnen dieses Land hinterlässt. Beides lässt sie nicht los, denn der Vater verlangt in seinem Testament, dass sie das Unternehmen gemeinsam übernehmen.

Also eine Zwangs-Zusammenführung.
Genau. Und daraufhin zerbricht die Familie noch mehr, die Geschwister zerstreiten sich aufgrund ihrer unterschiedlichen politischen Haltungen komplett. Sie wissen nicht mehr, wo ihre Position ist und wie sicher sie hier sind.

Fingerzeig in die Zukunft

Nun ist das Stück verortet im Jahr 1992. Gibt es auch Linien, die ins Heute verweisen?
Auf jeden Fall. Es stellt implizit die Frage, wie es weitergegangen wäre, wenn die Behörden damals diese Geschehnisse ernster genommen hätten. Hätte man den NSU verhindern können? Hanau? Halle? Es gibt im Stück anachronistische Verweise in die Zukunft. Da kommt zum Beispiel die Frage auf: "Was ist denn, wenn diese Menschen sich bewaffnen und in den Untergrund gehen?"

So eine Art Vision von der Zukunft?
Ja. Mir gefällt sehr gut, wie Nuran David Calis das Stück aus unserem heutigen Wissen konstruiert. Da wird deutlich, wie sich die Geschichte wiederholt und die Politik. Dass Bundeskanzler Helmut Kohl damals nicht zu den Trauerfeiern gefahren ist, weil er keinen "Beileidstourismus" betreiben wollte, hatte fatale Folgen. Wenn das Staatsoberhaupt solche Anschläge nicht ernst nimmt, wieso sollte es dann der Rest der Bevölkerung tun? Wenn wir aber ein größeres Bewusstsein dafür aufbauen, können wir vielleicht präventiv verhindern. Für mich ist das der politisch wichtigste Abend, den es in dieser Spielzeit an den Kammerspielen geben wird. Weil er gleichzeitig auf deutsche Geschichte und auf die Tagespolitik Bezug nimmt.

"Menschen aus der Upper Class"

Wie gehen die Fakten und die Fiktion zusammen? Worin liegt der Reiz, das historische Geschehen mit der Geschichte einer Gastarbeiter-Familie zu verknüpfen?
Nuran David Calis hat eine türkische Familie erfunden, die ein Imperium hat. Das Ehepaar ist in den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und hat sich hochgearbeitet. Das hat das System ja eigentlich gar nicht vorgesehen. Und das finde ich spannend, dass ich hier nicht die türkische Putzfrau oder den Fabrikarbeiter auf der Bühne sehe, sondern Menschen aus der Upper Class. Sie dachten, sie sind in Deutschland angekommen, aber dieser Anschlag wirft diese Familie zurück. Auf einmal spielt alles andere keine Rolle mehr, und sie sind wieder einfach Türken. Das ist eine Erfahrung, an die ich persönlich total andocken kann. Man wird reduziert auf die vermeintliche Identität einer Gruppe, zu der man angeblich gehört aufgrund von Hautfarbe, Haarfarbe oder eines Akzents.

"Ich wollte Sichtbarkeit schaffen"

Wer spielt diese Familie?
Ich wollte Sichtbarkeit schaffen. Deshalb wollte ich auch auf der Bühne keine weiße Person aus der Dominanzgesellschaft sehen, nur Persons of Color. Denn wenn so etwas wie dieser Anschlag passiert, dann sind immer alle PoCs gemeint. Da bröckelt ein Stück von dir selbst ab. Nach solchen Terroranschlägen spielt es keine Rolle, wer du bist und was du mit deinem Leben machst, du bist einfach Teil einer Gruppe.

Pinar Karabulut wurde 1987 in Mönchengladbach geboren. Sie studierte Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Neue deutsche Literatur in München. Ab 2014 inszenierte sie in Köln, Berlin, Wien, Basel und dem Münchner Volkstheater.
Pinar Karabulut wurde 1987 in Mönchengladbach geboren. Sie studierte Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Neue deutsche Literatur in München. Ab 2014 inszenierte sie in Köln, Berlin, Wien, Basel und dem Münchner Volkstheater. © Singh

Sie wurden 1987 geboren, waren 1992 gerade fünf Jahre alt. Haben Sie eine Erinnerung an die aufgeheizte Stimmung in den 1990er Jahren, als es zu einer ganzen Reihe rechtsextremer Gewaltverbrechen kam? In Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen…
Ich erinnere mich sehr gut an die Fernsehbilder aus Mölln und Solingen, an die abgebrannten Häuser. Das hat sich in meinem Gedächtnis eingespeichert, das werde ich nie vergessen. Damals als Kind habe ich nichts verstanden. Aber es gab eine Phase, in der meine Eltern total Angst hatten und die Stimmung zuhause sehr unangenehm war.

"Wir sind immer sehr schnell gegangen"

Wir sind immer sehr schnell gegangen, wenn wir unterwegs waren, es war immer so stressig. Da war ein großes Gefühl der Unsicherheit, auch wenn meine Eltern das vor mir nie ausgesprochen haben. Dass das etwas mit Rassismus zu tun hatte, habe ich erst sehr viel später verstanden. Ich bin sehr glücklich, dass die Jugendlichen von heute so etwas wie rassistische Äußerungen viel bewusster wahrnehmen und auch benennen können.

Sie arbeiten gerne mit expressiven bunten Kostümen und versetzen ihre Schauspieler:innen in gewagte Räume. Wie gehen Sie optisch mit diesem für Sie ungewöhnlich realistischen Stück um?
Für meine Verhältnisse ist es beinahe minimalistisch. Wir arbeiten mit eher dunklen und gedeckten Farben. Die Bühne ist eine Drehscheibe, eine Plattform. Daneben gibt es nur einen sich bewegenden Aushang, der an Wind erinnert, an Wasser und auch an Feuer. Aleksandra Pavlović hat einen Assoziationsraum entworfen, der die Sinne anregt. Er soll etwas triggern, ohne es konkret zu zeigen. Ich will, dass wirklich der Text im Zentrum steht.

Lesen Sie auch

Lesen Sie auch

"Wir müssen uns noch weiter öffnen"

Sie sind Teil des Leitungsteams der Kammerspiele. Wie alle Theater haben auch die Kammerspiele mit einer der Pandemie geschuldeten Zuschauerkrise zu kämpfen. Wie könnte man die Leute wieder ins Theater locken?
Ich habe das Gefühl, wir müssen uns noch weiter öffnen und die Menschen abholen. München ist eigentlich eine so theateraffine Stadt, und ich glaube, wir kriegen es auch wieder hin, die Säle zu füllen. Vielleicht müssen wir noch mehr Aktionen starten und besser kommunizieren. Aber ich habe komplette Zuversicht. Das Theater ist die unmittelbarste Kunstform, um sich mit Menschen auszutauschen. Vielleicht müssen wir diese Spielzeit noch aushalten, aber ich bin sicher, dass es dann wieder gut laufen wird. Möglicherweise ist auch nicht jeder Wochentag ein gleich guter Theatertag: Wer zum Beispiel möchte am Montag ins Theater gehen? Vielleicht muss man konkreter werden und das Programm stärker fokussieren. Auf keinen Fall dürfen wir in die Überproduktionsfalle von Streaming-Diensten fallen. Das ist Theater nicht.


Uraufführung  23.11., 20 Uhr im Schauspielhaus. Auch am 24.11., 1., 3. und 15.12. Karten online und unter Telefon 089 233 966 00.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.