Kritik

"Paradise Lost - Die Zukunft der Demokratie": Süffige Poesie

Sven Kemmlers neues Programm "Paradise Lost - Die Zukunft der Demokratie" im Lustspielhaus.
Mathias Hejny |
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Sven Kemmler.
Sven Kemmler. © Kemmler

München - Titel und PR-Foto sind in viel versprechendem Widerspruch.

Kemmler verkleidet als Trump-Anhänger

Sven Kemmler hat sich für das Werbeplakat seines neuen Programms als der Trump-Anhänger verkleidet, der mit seinem schamanenhaften Bison-Look ikonografisch wurde für den Sturm radikaler Republikaner auf das Capitol am 6. Januar 21. Darunter ist zu lesen: "Paradise Lost - Die Zukunft der Demokratie". Ein literaturaffiner Politik-Professor könnte so oder so ähnlich auch eine Vorlesungsreihe für das nächste Semester betiteln.

Auf der Bühne ist Kemmlers Kostüm weitaus weniger spektakulär. Seine Premiere im Lustspielhaus war, wie er im Zugabenteil gestand, eine "Old-School-Premiere", denn er habe die Texte bisher ausschließlich seinen Möbeln vorgetragen, und die seien begeistert gewesen.

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Wenn er noch an dem einen oder anderen Schräubchen dreht, könnte seine Einrichtung sogar schier ausflippen. Das betrifft vor allem den Beginn, der noch arg schleppt und tatsächlich eine Anmutung von Hörsaal entfaltet, wobei der Vortragende nicht am Pult steht, sondern am Tisch sitzt.

Süffige Slam-Poesie

Erst ganz gemächlich wird daraus süffige Slam-Poesie, die freilich kein Quell überschäumender Witzigkeit ist, wie sie Kemmler bei anderen Gelegenheiten zeigen konnte. Das Thema ist die gegenwärtige Demokratie-Dämmerung unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungen in den USA, dem zu Nationalismus und Rassismus neigenden Mutterland der modernen Demokratie, sowie flankiert von einer Pandemie und einem Krieg im europäischen Osten.

Zu schöngeistig für die Verfassungsfeinde im Reichstag

Man könnte sich natürlich damit beschäftigen, dass seit zwei Legislaturperioden wieder rechte Verfassungsfeinde den Reichstag, in dem der Bundestag beheimatet ist, bevölkern oder deren Komplizen auf den Straßen im Namen ihrer Freiheit eine effektive Seuchenbekämpfung verhindern.

Aber fürs innenpolitische Alltagsgeschäft ist Sven Kemmler zu weltläufig und auch zu schöngeistig. Wie Demokratie Potenzial für ihren Untergang entwickelt, demonstriert er beispielsweise an einer Neudichtung von Herman Melvilles "Moby Dick".

Der Traum von einer "Demokratie ohne den lästigen Kapitalismus"

Da hat sich die Mannschaft zu einem Parlament mit verschiedenen Parteien versammelt, während Käptn Ahab raunzt "Für stabile Mehrheiten ist traditionell der Kapitän zuständig". Old Shatterhand wiederum bekennt sich nun zum Frausein und heißt Charlotte, die mit ihrer Blutsschwester Winnetou, die jetzt Winfried heißt, über das Frauenbild der indigenen Völker streitet. Für die "Zukunft der Vergangenheit" - also das Jetzt - träumt Kemmler von "DOK", einer "Demokratie ohne den lästigen Kapitalismus".

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Kemmler rechnete mit einem Shitstorm

Sponsor der Show ist, bei dieser Gelegenheit erwähnt, ein japanischer Parfumhersteller mit seinem neuen Produkt: ein Duftbaum namens "Bildung". Im Vorfeld seiner Premiere hatte Kemmler wegen mancher demokratiekritischer Äußerungen mit "Shitstorms" gerechnet.

Aber das Publikum am Eröffnungsabend war klug genug, den Schwabinger Kabarettisten überaus freundlich zu feiern, denn er erzählt aus tiefster Seele demokratietreu und freiheitsliebend von der Brüchigkeit der paradiesischen Zustände, aus denen wir uns gerade selbst vertreiben könnten.


Wieder am 23. April, 20 Uhr, diesmal im Hofspielhaus, Karten unter Telefon 089/24209333

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