"La voix humaine": Ein seltenes Schauspiel
München - Wie schafft man es als Geiger oder Klarinettistin, auch nur einen einzigen Blick in die Noten zu werfen, wenn Barbara Hannigan vor einem steht? Die kanadische Sopranistin spielt nicht, sondern durchlebt förmlich das Monodrama "La voix humaine" von Francis Poulenc.
In schwarzer Alltagskleidung verwandelt sie sich in die von Jean Cocteau ersonnene Frau, die mit ihrem Geliebten telefoniert, der sie am Abend zuvor verlassen hat. Die namenlos bleibende Protagonistin ist nervös, Hannigans ohnehin impulsiver Sopran spürbar überspannt.
Spektakuläre schauspielerische Identifikation
Die Frau tut mit ihrem expressiven Stummfilmgesicht so, als ob sie stark sei, verliert sich in Träumereien - und offenbart dabei nur ihre tiefe Traurigkeit. Zu allem Überfluss wird diese spektakuläre schauspielerische Identifikation in der Isarphilharmonie noch in Echtzeit auf eine Leinwand im Bühnenhintergrund übertragen (Regie/Video: Clemens Malinowski).
Gleichzeitig dirigiert Hannigan auch noch
Bei all diesen Sensationen dürfen die Münchner Philharmoniker sich aber nicht ablenken lassen, sondern müssen auf Barbara Hannigan schauen, weil sie nicht nur singt und agiert, sondern diese dreiviertelstündige Oper auch noch dirigiert! Das wäre an sich schon ein echter Coup, denn wer außer Hannigan wäre noch zu diesem Stunt fähig? Und es wird noch besser.
Ausgeklügelten Dramaturgie
Denn die Verschmelzung von Bühnenfigur, Orchester und Orchesterleitung wird dadurch perfektioniert, dass Hannigan ihre souveränen dirigentischen Bewegungen in einer ausgeklügelten Dramaturgie in das Schauspiel integriert: Einem massiven Akkord gibt sie ein hörbares "Woumm" mit. Der Zeigefinger, mit dem sie dem unsichtbaren Geliebten etwas vorgezählt hat, wird zum Taktstock. Und manche Einsätze werden von der frustrierten Frau gar mit der Faust geboxt.
Unübertreffbar Dank Entschlossenheit und Zielstrebigkeit
Unübertreffbar wird das Kunststück, weil die Münchner Philharmoniker, von ihrem Konzertmeister Julian Shevlin unauffällig, aber wirkungsvoll koordiniert, auf all die phantasievollen Gesten immer genau auf den Punkt einsetzen. Die Dirigentin wiederum erhält ihre Energie aus der Art und Weise, wie sie sich in die neurotische Frau hineinversetzt; eine Entschlossenheit und Zielstrebigkeit, die sie in den "Metamorphosen" von Richard Strauss vorher nicht ganz erreicht hat.
Bei Poulenc aber vollzieht sich eine magische Verwandlung, wie sie sich Librettist und Komponist nicht erträumen konnten: Ein ganzes Orchester wird zum direkten Ausdruck der Gefühlswelt einer existentiell verletzten Frau. Dieses seltene Schauspiel kann man übrigens heute noch einmal miterleben.
Noch am Freitag um 20 Uhr in der Isarphilharmonie, Karten an der Abendkasse