"Joy 2022" in den Kammerspielen: Die Kunst der Nähe
Ganz schön intim: Angesichts des Erstarkens konservativer und reaktionärer Haltungen zu Geschlecht und Körperlichkeit und einer zunehmenden sex-negativen Kultur zielt "Joy 2022" darauf ab, Freuden und Verletzlichkeiten sichtbar zu machen, schreiben die Kammerspiele als Ankündigungstext. "Joy 2022" von Michiel Vandevelde war im Sommer bereits bei den Wiener Festwochen zu sehen und ist jetzt an den Kammerspielen.
AZ: Frau Wilke, 2020 wurden Sie und Pawel Dudus für Ihre Arbeit "Scores that shaped our friendship" mit dem Faust-Theaterpreis in der Kategorie Darsteller*in Tanz ausgezeichnet. Die Jury nannte die Produktion eine "Utopie im Umgang von Körpern miteinander". Ist "Joy 2022" in gewisser Weise eine Fortschreibung dieser Produktion?
LUCY WILKE: Nein, erstmal haben die beiden Arbeiten gar nichts mit einander zu tun, das sind sehr verschiedene Baustellen. Eine Parallele ist aber tatsächlich, dass beide Inszenierungen einen sehr positiven Ansatz haben. Auch in "Joy 2022" geht es um eine spielerische Herangehensweise an das Thema Sexualität.
"Verspieltes Stück ohne düstere Szenen"
Der Titel verspricht zeitgemäße Freude. Bringt Ihnen die Produktion auch Freude?
Ja! Es ist eine sehr nette Truppe und mir gefällt das sehr gut. In Wien wurde teilweise kritisiert, dass es so ein positives Stück ist und nicht so viel Konflikthaftes darin ist. Aber ich finde das total gut. Der ganze Zugang zur Sexualität ist hier ein sanfter und fröhlicher. Es ist ein sehr bewegungsorientiertes und verspieltes Stück. Da sind keine Szenen, die düster sind.
Es ist doch auch schön, wenn mal was positiv ist. Negativ ist ja schon genug.
Eben. Aber manche meinen halt, ein Stück muss total kontrovers sein. Das finde ich nicht. Ich finde, man kann auch mal anders herangehen. Und das Stück tut ja auch nicht so, als wäre alles in Ordnung.
Einvernehmlichkeits-Workshops und Hippie-Choreografien
Wie hat sich das Ensemble dem sehr intimen Thema genähert?
Wir haben zuerst einige Workshops zum Thema Sexualität bekommen. Da ging es um Grenzen, Einvernehmlichkeit und Verspieltheit. Aus diesen Workshops hat sich schon einiges an Material ergeben, da wurden Ideen gesammelt und später ausgearbeitet. Die Choreographie, die schließlich entstanden ist, hat sich teilweise aus unseren Improvisationen entwickelt. Andere Teile sind feste Choreographien, zum Beispiel die Szenen, die von dem Hippie-Happening "Meat Joy" handeln, das Carolee Schneemann 1964 inszeniert hat.
Buntes Ensemble: SchauspielerInnen und Sexpositivity-AktuerInnen
Neben Ensemblemitgliedern stehen "Akteur*innen der Sexpositivity-Szene" auf der Bühne. Wie hat das Ensemble zusammengefunden? Es ist doch auch Vertrauen nötig für so eine Arbeit.
Durch die Workshops ist schon eine gewisse Nähe entstanden. Zusätzlich gab es Gesprächskreise, in denen wir über unsere sexuelle Geschichte gesprochen haben.
In diesen Gesprächen konnten dann alle sagen, wo ihre persönlichen Grenzen sind? Wozu sie bereit sind und wozu nicht?
Wir hatten tatsächlich auch eine Vertrauensperson in der Gruppe, eine "Awareness-Beauftragte". Die konnten Leute ansprechen, falls etwas schiefläuft oder sie sich nicht wohlfühlen. Sie war immer mit dabei und stand für vertrauliche Gespräche zur Verfügung.

Stadttheater vs. Freie Szene
Sie sind seit 2020 fest im Ensemble der Kammerspiele, vorher haben Sie in der freien Szene gearbeitet. Wie erleben Sie die kontinuierliche Arbeit an einem Stadttheater? Was hat sich für Sie geändert?
Ich empfinde die Arbeit mit so vielen verschiedenen Menschen als sehr spannend und kann da viel lernen. Es ist natürlich eine ganz andere Arbeit als in der freien Szene. Dort finde ich es noch ein bisschen familiärer: Da arbeitet man meist in kleinen Gruppen und ist die ganze Zeit im Prozess dabei. An einem festen Haus dagegen kommt man oft nur zu den Szenen, in denen man selbst vorkommt. Insofern ist das ganz anders als wenn man die ganze Zeit mit der Gruppe verbringt. Aber ein festes Haus hat natürlich auch Vorteile.
Zum Beispiel?
Ich finde es wirklich schön, in einem Ensemble zu arbeiten. Da lernt man sich immer besser kennen und hat inzwischen auch schon eine gemeinsame Geschichte. In der freien Szene bin ich nach einer Produktion oft traurig, weil ich weiß, dass ich die Leute nicht mehr sehen werde. Außerdem gibt es hier am Haus auch ganz andere Entwicklungsmöglichkeiten, zum Beispiel kann ich hier auch mal etwas inszenieren, wenn ich möchte. Da ist eine große Offenheit. Wir sind hier dazu eingeladen, sehr viel einzubringen.
Immer mehr Menschen mit Behinderung an Deutschlands Theatern
Wird es allmählich selbstverständlicher für das Publikum, Schauspieler:innen mit Behinderung auf der Bühne zu sehen? Wie erleben Sie das?
Ich finde, da hat sich in den letzten Jahren einiges verändert. Es ist natürlich ein Prozess, aber die Leute von den Kammerspielen sind da sehr offen und freundlich und bemüht. Und in Deutschland gibt es auch insgesamt viel mehr Häuser, an denen Leute mit Behinderung spielen. Und je mehr es das gibt, desto mehr wird das zu einer Normalität.
Sind die Kammerspiele für Sie als Rollstuhlfahrerin jetzt zugänglich genug? Oder gibt es immer noch Ecken, an denen Sie nicht weiter kommen?
Die haben sich sehr viel Mühe gegeben, Dinge zu ändern. Es ist allerdings so, dass manche Umbauten sehr teuer sind. Deshalb ist es einfach nicht möglich, alles auf einmal barrierefrei zu machen, auch wenn sie das sehr gerne machen würden. Das kann erst nach und nach passieren. Aber viele Barrieren sind schon weg. Es gibt noch Räume, in die ich nicht komme, aber da wird eben geschaut, dass ich da auch nicht hin muss.
Humorvoller Bandname: "blind&lame"
Sie sind nicht nur Schauspielerin und Tänzerin, sondern auch Sängerin. Ist das neben der Arbeit an den Kammerspielen denn überhaupt noch möglich?
Ich versuche es. Das ist nicht ganz einfach, weil das Schauspiel sehr viel Zeit belegt. Ich gebe schon noch Konzerte, aber ich freue mich auch, wenn das mal wieder ein bisschen mehr wird irgendwann.
Mit Ihrer Mutter haben Sie eine Band gegründet: "Blind & Lame". Ihre Mutter ist blind, Sie sitzen im Rollstuhl. Wer hat sich den Bandnamen ausgedacht?
Den Bandnamen habe ich mir ausgedacht, aber es war erstmal als Scherz gedacht. Wir waren spazieren und haben überlegt, wie wir uns nennen sollen. Da habe ich gesagt "Blind & Lame", und wir haben beide sehr gelacht. Unsere Managerin fand den Namen dann gut - und so er ist geblieben.
Wie wichtig ist Ihnen Humor?
Sehr wichtig. Ohne Humor geht gar nichts.
Bei der Verleihung des Bayerischen Kulturpreises haben Sie gemeinsam Ihren Song "Come a little closer" gesungen, in dem es heißt: "Don't be scared of what you don't know". Ist das Ihr Motto und das, was Sie den Menschen mitgeben wollen? Dass sie einfach ein Stück näher kommen, genauer hinsehen?
Das ist eigentlich unser einziges Lied, das sich mit Inklusion beschäftigt. Es ist vor allem eine Einladung, sich zu entspannen und das, was man nicht so gut kennt, auf sich zukommen zu lassen und willkommen zu heißen.
Kammerspiele, Maximilianstraße, wieder am 20., 21. Januar und 1. Februar 2023.
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