Intimes Gesellschaftspanorama in den Münchner Kammerspielen

Kammerspiele: Heitere Saisoneröffnung mit der Uraufführung von Jan Bosses Familiensaga "Effingers".
Mathias Hejny |
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Lucy Wilke verdreht allen Männern den Kopf als Sängerin Susanna Widerklee in ihrer porzellanenen zerbrechlichen Schönheit. Hinten: André Jung.
Lucy Wilke verdreht allen Männern den Kopf als Sängerin Susanna Widerklee in ihrer porzellanenen zerbrechlichen Schönheit. Hinten: André Jung. © Armin Smailovic

München - Spielzeiteröffnung - und die Stimmung ist bestens. Endlich wieder richtiges Theater in einem Schauspielhaus, in dem nicht mehr nur jede zweite Reihe schütter besetzt steht, um dem Virus keine Chance zu geben. Nur manchmal während der fast vier Stunden, die die Aufführung dauert, trauert man der Weite nach, die einen in der Pandemie-Zeit umgab und in der man sich herumlümmeln konnte wie zu Hause auf dem Sofa.

Gute Laune auf der Bühne

Aber auch auf der Bühne herrscht bei der Uraufführung von "Effingers" gute Laune. Völlig überraschend hat in der nach zwanzig Jahren wieder an die Münchner Kammerspiele zurückgekehrte Jan Bosse in der sieben Jahrzehnte rund um die vorletzte Jahrhundertwende umfassenden Familiensaga einen Witz mit Neigung zur Klamotte entdeckt.

So trabt und wiehert das Ensemble bei einem Ausritt des Effinger-Clans und markiert ausgelassen die Pferde, die es auf der Bühne nicht gibt, oder Bekim Latifi feiert das beginnende Jahr 1900 mit selbstvergessener Akrobatik an Stühlen, oder Julia Gräfer beschreibt als Ingenieur mit clownesker Anschaulichkeit die Funktionsweise eines Viertaktmotors.

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Die Technik spielt bei der in Gründung befindlichen Automobilfabrik Effinger eine große Rolle und die Debatte um Elektroantrieb versus Verbrennungsmotor erntet mit seiner 140-jährigen Aktualität die ganz großen Lacher.

Als der umfängliche, erstmals 1951 erschienene Roman von Gabiele Tergit vor zwei Jahren wieder veröffentlicht wurde, galten die Effingers als "jüdische Buddenbrooks". Aber Tergit und ihr zwar detailverliebtes, aber letztlich sachliches Erzählen scheinen näher bei Hans Fallada oder Erich Kästner zu sein als am opulenten Thomas Mann. Deshalb könnte die übermütige Heiterkeit da und dort auch ein Missverständnis sein, denn sie verstimmt, wo sie die Arroganz der Nachwelt spürbar macht.

Keine faktenhubernde Erwachsenenbildung

Natürlich wissen wir heute Vieles besser, aber sich über den von mitunter heute naiv anmutenden Fortschrittsglauben und die fast bizarr erscheinenden Konventionen, von denen die großbürgerliche Welt damals umstellt war, lustig zu machen, ist billig.

Vermutlich fürchtete Bosse nichts mehr als vor allem im ersten Teil in faktenhubernder Erwachsenenbildung unterzugehen, denn die Zusammenhänge sowohl der Epoche als auch der Familien Effinger und Oppner, die den Kern der Ereignisse bilden, sind komplex und müssen erklärt werden.

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Andererseits fängt die Inszenierung das immer wieder elegant bis betörend auf. Bilder brennen sich ins Gedächtnis ein wie das der an den Rollstuhl gefesselte Lucy Wilke, die als allen Männern den Kopf verdrehende Sängerin Susanna Widerklee in ihrer porzellanenen zerbrechlichen Schönheit einsame Runden dreht und dabei Purcells "When I Am Laid In Earth" aus "Dido und Äneas" singt.

Oder der Moment, in dem die zur international anerkannten Künstlerin gereifte Sofie das Scheitern ihrer einzigen Liebe erkennt und bei Katharina Bach zu einer völlig verstörten Fee wird.

Gesellschaftspanorama und Verknüpfung von Einzelschicksalen

Oder auch die letzte Szene, die André Jung ganz alleine gehört: Als Waldemar, dem letzten Überlebenden der Großelterngeneration aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert, zieht er auf verwüsteter Bühne die vorläufige und weitsichtige Bilanz seiner von den Faschisten kontrollierten Gegenwart: Es gehe den Herrschenden nicht um die "Auslese der Besten im Kampf ums Dasein", sondern nur um die "Auslese der Korruptesten, Skrupellosesten und Stärksten."

Dann prostet er still einem Leben zu, das vielleicht wieder einmal besser sein wird.

Jung gehört wie Katharina Marie Schubert zu den beiden temporär an die Kammerspiele heimgekehrten Gästen in diesem Traumensemble, das sich mit einer ansteckenden Spielfreude darum kümmert, dass das vom Regisseur und der Dramaturgin Viola Hasselberg verfolgte Konzept weitgehend aufgeht.

Die Balance zwischen großem Gesellschaftspanorama und mal psychologisch, auch mal surrealistisch oder einfach nur kabarettistisch unterfütterten Einzelschicksalen ist zwar in jedem Moment des Abends bedroht, aber liest man diese nie wirklich greifbare Unsicherheit als den Subtext dieser Erzählung über den Aufstieg und Fall einer Familien aus Bankiers und Industriellen, ist es ein starker Abend.


Nächste Vorstellung am 2. Oktober, 19.30 Uhr und 3. Oktober, 19 Uhr, Tel. : 089233 966 00, Karten auch online.

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