"Hungry Ghosts" in den Kammerspielen: Wie uns Vergangenes einholt

"Hungry Ghosts", eine "Farce über komplizierte Biografien" von Anna Smolar an den Kammerspielen.
Mathias Hejny |
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"Hungry Ghosts": Nicola Fritzen und Lucy Wilke.
"Hungry Ghosts": Nicola Fritzen und Lucy Wilke. © Maurice Korbel

Schon 200 Zuschauer würden für die über 600 Plätze der Kammerspiele reichen, wenn alle ihre Vorfahren, die ihnen ihre Traumata vererbt haben, mitbringen könnten: die Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, all die Tanten und Onkel, die Kriege, Krankheiten und andere Katastrophen erlitten haben.

Das ist ein Gedankenspiel aus "Hungry Ghosts", einer "Farce über komplizierte Biografien", mit der die polnische Regisseurin Anna Smolar die Epigenetik zum Thema für das Theater macht.

Verschränken von bürgerlichem Lachtheater und Performance mit psychoanalytischem Impact

Wenn Biografien kompliziert sind, hängt das nicht zuletzt auch mit der jüngeren Familiengeschichte zusammen, die einen Einfluss darauf hat, wer wir sind. Das Vorhandensein eines Gedächtnisses der Gene ist, grob zusammengefasst, die Arbeitshypothese dieser Disziplin, die die in Ostasien verbreitete Vorstellung von "hungrigen Gespenstern" aus der Vergangenheit, die an der Seele nagen, wissenschaftlich erforscht.

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Mit ihrer Stückentwicklung siedelt Anna Smolar den Stoff im Theatermilieu an: Ein Ensemble probt an einer Boulevardfarce mit den üblichen amourösen Verwicklungen, übt rasanten Slapstick und das lustigste Hinfallen ("Der Boden ist dein Partner"). Charlotte (Katharina Marie Schubert) hat aber Schmerzen und kann nicht weiterarbeiten. Ihre Mutter Doris (Johanna Eiworth) ist ihre Bühnenpartnerin und allmählich materialisiert sich ein Gespenst aus Doris' Kindheit. Sie fühlt sich schuldig am Ertrinken ihrer Schwester, was aber auch noch auf der Seele ihrer Tochter Charlottes unvernarbte Wunden hinterlässt.

Das Verschränken von bürgerlichem Lachtheater und Performance mit psychoanalytischem Impact funktioniert erwartungsgemäß nicht so geschmeidig klippklapp, wie es bei einer gut gebauten Boulevardklamotte sein sollte. Das Bild, das Smolar für die tödlich verunglückte Schwester der Mutter (gleichfalls Johanna Eiworth) findet, ist schlicht. Die tote Tante im Badeanzug lastet schwer auf der Schulter der unschuldigen Nichte und steuert sie wie eine Marionette. Das Happyend, wie es zu einer Komödie gehört, und wie weit sich Charlotte vom Leben der Mutter emanzipieren kann, bleibt ein wenig offen.

Unter Anleitung der Autorin Agnes (Lucy Wilke), die kühl vom Rollstuhl aus die Kontrolle hat, begegnen sich die früheren Generationen zum Tanz (Choreografie: Pawel Sakowicz). Das ist spekulativer, als es auch die schrillste Farce sein könnte. Immerhin ist Zeit für Selbstkritik am Regietheater, wenn Agnes dem Regisseur ihres Stücks (André Brenndorf) empfiehlt, sich für ein paar Tage zum Masturbieren zurückzuziehen, bevor die Proben weiter gehen.

Küchenpsychologie und Epigenetik bekommen persönliche Substanz

Doch die türenreichen Wände der Komödie verschwinden mit der Zeit und weichen einer nebelverhangenen Traumlandschaft (Ausstattung: Anna Met), die einen ganz eigenen Sog entwickelt.

Den Text entwickelte Smolar aus Erzählungen der Schauspielerinnen und Schauspieler über traumatisierende Ereignisse in der eigenen Familienchronik, die der küchenpsychologischen Debatte Substanz und eine differenzierte, multiple Perspektive verleihen.

In einem von Mira Marcinów geschriebenen Monolog etwa schmelzen die fiktive Maskenbildnerin Jackie aus Serbien und das authentische Kammerspiel-Ensemblemitglied Jelena Kuljić zusammen, wenn sie sich an die Großmutter erinnert, die den im Krieg umgekommenen Onkel Pavel betrauert: Er "hatte meine Mutter und meine Großmutter zu Klageweibern gemacht. Bei uns zu Hause gab es keine Männer. Es gab nur den heiligen jungen Mann. Ich versuchte, diese Lücke auszufüllen".


Kammerspiele, 28. Oktober sowie 28. und 29. November, 20 Uhr, 089 -  233 966 00

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