Felicitas Brucker: Die Geister in den Köpfen
Bereits letzte Woche starteten die Kammerspiele mit dem Claude-Cahun-Abend "La Mer Sombre" in die neue Spielzeit – eine Inszenierung im Werkraum, die zusammen mit zwei Premieren im Schauspielhaus ein großes Eröffnungswochenende ergeben sollte. Bereits im Sommer machten jedoch Corona-Infektionen im Ensemble Verschiebungen notwendig. Jetzt folgt die Doppel-Premiere: Felicitas Brucker hat mit fünf Ensemblemitgliedern "Nora" inszeniert – Ibsens Stück, angereichert um Texte dreier zeitgenössischer Autorinnen. Zudem bringt Brucker mit dreien der fünf Spielenden Édouard Louis' Buch "Die Freiheit einer Frau" auf die Bühne. Das Double Feature findet am Freitag, 19 Uhr, statt.

Felicitas Brucker: "'Nora' wird im Theater-Kanon als Emanzipationsgeschichte verstanden"
AZ: Frau Brucker, wie kam es dazu, dass Sie gleich zwei Stücke auf einmal inszenieren?
FELICITAS BRUCKER: Wir haben schon sehr früh über "Nora" gesprochen, also die Kammerspiele, der Produktionsdramaturg und ich. Dabei kam schon früh die Idee auf, dass wir zeitgenössische Autorinnen beauftragen und damit Ibsens Stück um drei weibliche Stimmen ergänzen. Einige Zeit später kamen wir auf Édouard Louis zu sprechen, dessen Werke ich sehr schätze. Als klar war, dass wir die Rechte für eine Theateradaption von "Die Freiheit einer Frau" bekommen können, überlegten wir erstmal, ob es wirklich Sinn macht, beide Stoffe gleichzeitig auf die Bühne zu bringen. Das eine Werk ist ja in keinster Weise eine Fortsetzung des anderen, wie das manchmal bei Doppelabenden im Theater der Fall ist. Dennoch ist es erstaunlich, wie viele Querverbindungen sich zwischen beiden Stoffen finden lassen.
Eine Querverbindung ist sicherlich, dass es in beiden Stoffen um die Emanzipationsbestrebungen von Frauen geht, die Mütter mehrerer Kinder sind und letztlich ihre Ehemänner verlassen.
Ja. "Nora" wird im Theater-Kanon als Emanzipationsgeschichte verstanden, wobei es zu der Zeit, als das Stück entstand, noch ein viel größeres Tabu war, dass eine Frau ihren Mann verlässt. Aus heutiger Sicht fragt man sich, ob dieses "Gehen" ausreicht oder ob sich nicht wesentlich mehr in den Beziehungen verändern müsste, damit man von einer Emanzipation sprechen kann. Mit dem Text von Édouard Louis stellt sich außerdem die Frage, inwiefern man als Frau, die "geht", wirklich Freiheit gewinnt, wenn diese durch die Brutalität der Klassengesellschaft doch weiterhin eingeschränkt bleibt.
"In Deutschland kommen Klassenunterschiede kaum zur Sprache"
Édouard Louis war am 27. September in München, um im Literaturhaus aus seinem neuen autobiographischen Buch "Anleitung ein anderer zu werden" zu lesen. Haben Sie ihn getroffen?
Ja, und wir haben uns auch genau über dieses Thema Klassenbewusstsein ausgetauscht: wie unterschiedlich damit in Deutschland und in Frankreich umgegangen wird. Ich lebe selbst seit acht Jahren in Paris und konnte feststellen, wie direkt in Frankreich über Arbeitsverhältnisse und die unterschiedlichen Schichten gesprochen wird. In Deutschland kommen Klassenunterschiede hingegen kaum zur Sprache, obwohl sie hier nicht weniger präsent sind.
Sivan Ben Yishai hat nun für Ihre "Nora"-Variante einen Prolog geschrieben, in dem sie Randfiguren überraschend viel Platz einräumt und damit die Frage der Klasse in Ibsens Stück hineinbringt.
Ja, Sivan Ben Yishai spiegelt die Hierarchie-Frage, indem sie sich auf das Rollenverzeichnis bei Ibsen bezieht. Darin sind Figuren unten aufgelistet, die auch im gesellschaftlichen Gefüge ganz unten stehen – ein Zimmermädchen oder ein Paketbote, die nur ein, zwei Sätze haben. In Sivans Prolog reflektieren sie ihre Situation, was auch dazu führt, dass Nora in einem anderen Licht erscheint: Sie lässt sich bedienen, nimmt ihr Leben nicht selbst in die Hand. Diese Sichtweise relativiert sich aber später, wenn etwa beschrieben wird, dass Nora nachts viel arbeiten muss, weil sie zusätzliches Geld verdienen muss.
Es gibt schon eine Weiterschreibung von Ibsens Vorlage, nämlich Elfriede Jelineks erstes Stück, "Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft" aus dem Jahr 1977. Darin landet Nora als Arbeiterin in einer Textilfabrik…
… und damit von einer Knechtschaft in die nächste. Ich liebe Jelinek sehr und finde den Text toll, aber er ist schon sehr an die Zeit seiner Entstehung gebunden. Wir haben mit den drei Autorinnen versucht, den Text und die Figur Nora aus heutiger Sicht zu befragen. Dabei konkurrieren ihre Texte nicht mit Ibsen, sondern treten eher in einen Dialog mit ihm, was mir sehr gefällt. Gerhild Steinbuch ergänzt einige zentrale Momente mit Innenansichten der Figuren und hat die finale Trennungsszene zeitgemäß überschrieben. Und Ivna Žic lässt die Kinder Noras zu Wort kommen.
Die wirken durchaus kritisch, wenn sie Jahre später über den Weggang der Mutter diskutieren.
Zwei von ihnen betrachten die damalige Situation eher analytisch und versöhnlich; der dritte verharrt in seinem Schmerz und seiner Wut darüber, dass er als Kind verlassen wurde. Dabei kommt ein Thema zur Sprache, das es schon bei Ibsen gab: wie abschätzig die Gesellschaft auf Frauen blickt, die sich nicht damit bescheiden wollen, Ehefrauen und Mütter zu sein. Bei den Proben kamen wir auch immer zu dem Punkt, das Einzelne bemerkten, wie bestimmte alte Ansichten mehr oder weniger unbewusst in ihnen nachhängen. In fast jeder und jedem wirken doch noch eingefahrene Rollenmuster. Sie existieren wie Geister in unseren Körpern, die eigentlich mal ordentlich ausgetrieben werden sollten.
Zuletzt haben Sie an den Kammerspielen mit "Die Politiker" eine sehr rhythmisch-musikalische Arbeit vorgelegt. Wenn man jetzt "Nora" liest, klingt das eher nach Rollenspiel, Einfühlung…
Rollen ja, Einfühlung eher bedingt. Durch die verschiedenen Perspektiven auf Nora und die Art, wie in die Sprache etwas anderes einbricht, gibt es schon ein performatives Element. Darüber kann Nora sich auch von ihrer Rolle emanzipieren: Sie kann aus der Geschichte heraustreten und ihre eigene Situation reflektieren. Gleichzeitig versuchen wir, dass der Thriller, der in dem Stück steckt, sich entspinnt und nicht in der postdramatischen Reflexion aufgeht. Es gibt ja einen spannenden Plot, über eine Frau, die immer tiefer in einen Strudel aus Betrug und Erpressung hineingerät. Das wollen wir groß ausspielen!
Für die Doppel-Premiere am Freitag, 19 Uhr, gibt es noch vereinzelt Karten, für die zweite Aufführung am Sonntag, 18 Uhr, noch viele (www.muenchner-kammerspiele.de). Die beiden Inszenierungen "Nora" und "Die Freiheit einer Frau" werden in Zukunft auch einzeln an verschiedenen Abenden gezeigt.
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