Passionsspiele: Es ist vollbracht!

Am Sonntag sind die 42. Passionsspiele in Oberammergau zu Ende gegangen. Es war eine besondere und emotionale Saison.
Anne Fritsch |
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Der Intendant - noch wenige Minuten mit langen Haaren - beim Schlussapplaus der 104. und letzten Vorstellung seiner Passion 2022.
Der Intendant - noch wenige Minuten mit langen Haaren - beim Schlussapplaus der 104. und letzten Vorstellung seiner Passion 2022. © Foto: Sebastian Schulte

Spielleiter Christian Stückl war einer der ersten, die mit Kurzhaarfrisur im Festzelt auftauchten. Nach der letzten Vorstellung der Oberammergauer Passionsspiele wurde das Atelier hinten im Theater in einen Friseursalon umfunktioniert, die Schlange davor war auch nach Mitternacht noch lang. Zur Dernieren-Party kam ein Darsteller nach dem anderen frisch rasiert und gestutzt, manch einer war kaum wiederzuerkennen. Die einen versuchten sich in experimentellen Vokuhila-Frisuren, die anderen scherten radikal alles ab. Seit Aschermittwoch 2021 galt der Haar- und Barterlass für die Passion 2022. Tatsächlich aber waren nicht wenige Oberammergauer seit 2019 nicht mehr beim Friseur. Als die corona-bedingte Verschiebung kam, beschlossen viele, einfach weiter wachsen zu lassen.

Passionsspiele Oberammergau: Kein Spiel ausgefallen

Am Sonntag nun gingen die 42. Passionsspiele zu Ende. Seit der Premiere am 14. Mai, die ausgerechnet auf den Gedenktag der Heiligen Corona fiel, musste keine einzige Vorstellung ausfallen, wie Bürgermeister Andi Rödl bemerkte. Und das ist tatsächlich ein kleines Wunder. Noch wenige Wochen vor der Premiere war nicht sicher, ob und unter welchen Bedingungen gespielt werden darf. Nun kann der Ort auf eine erfolgreiche Saison zurückblicken, 104 Aufführungen mit einer Auslastung von 91 Prozent. Und dass, obwohl viele Besucher und Besucherinnen aus dem Ausland, vor allem aus den USA, wegen der Pandemie und des Kriegs in der Ukraine abgesagt haben. Dafür kamen viele spontane Gäste aus dem deutschsprachigen Raum.

Ganz ohne Turbulenzen ging es freilich nicht. Alle Beteiligten wurden täglich getestet, die Zahl der durchgeführten Tests liegt im hohen Zehntausender-Bereich. Dass ein Spieler den Satz oder die Rolle eines anderen übernehmen musste, wurde schnell Alltag. Wenn einer der beiden Schächer, die neben Jesus gekreuzigt werden, krank war, musste auch mal ein Apostel ans Kreuz.

An einem dieser heißen Sommertage wurde da in der Pause eine spontane "Hängeprobe" gemacht, schließlich ist dieser Vorgang ein durchaus schwindelerregender: Die Füße sind drei Meter über dem Boden, das Einrasten des Kreuzes verursacht einen Ruck, bei dem man kurz fürchtet, vornüber zu fallen.

Fünf Spieltage pro Woche

Da hing dann vor pausenleeren Zuschauerreihen plötzlich ein Apostel in Badehose am Kreuz. Irgendwie haben sie es aber jedes Mal hingekriegt. Und der GAU, dass beide Jesus-Darsteller gleichzeitig ausfallen würden, blieb zum Glück aus. Passion-Spielen bedeutet, für ein Jahr in den Ausnahmezustand zu wechseln. Entweder man probt und spielt neben dem normalen Job. Oder man nimmt eine Pause im Studium oder Beruf. Für ihr Spiel nehmen die Oberammergauer viel in Kauf. Die meisten derer, die 2020 angemeldet waren, waren auch 2022 dabei. Sie planten ihr Leben gleich zweimal um.

Die Saison von Mitte Mai bis Anfang Oktober ist anstrengend, fünf Spieltage pro Woche gilt es zu stemmen. Aber sie ist auch ein großer Spaß, ein gigantisches Gemeinschaftserlebnis. Aus der Grundschule sind fast alle Kinder dabei, gemeinsam mit ihren Eltern und Großeltern stehen sie auf der Bühne. In den Garderoben gibt es immer eine Brotzeit, an spielfreien Tagen stets irgendein kleines oder größeres Fest.

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Theater ist Behauptung

Dieses Gefühl ist es, was bei jeder Passion an die nächste Generation weitergegeben wird, ganz nebenbei. Wenn die mitspielenden Kinder wollen, veranstalten sie in den Sommerferien ihre eigenen Passionsspiele, die "Kinderpassion". Diesmal haben sich vier junge Spielleiter zusammengetan, Teilnehmerlisten geschrieben, Rollen verteilt und in den Ferien täglich neben ihren Auftritten in der großen Passion mit 100 Kindern geprobt. Ludwig Freier und Seppi Flemisch (11 Jahre) und ihre Brüder Fridolin Freier und Carl Flemisch (acht und neun Jahre alt) haben ein Spiel auf die Freiluftbühne des Ammergauer Hauses gebracht, das sich sehen lassen konnte. Bis auf die Chorszenen haben sie den (gekürzten) Text der Erwachsenen verwendet, von Esel über Abendmahl bis zur Kreuzigung gab es nichts, das es nicht gab.

Diese Kinder haben längst verstanden, was Theater ist: Man stellt sich hin und spielt eine Rolle. Da kann ein Neunjähriger Jesus sein oder ein Achtjähriger Pilatus. Theater ist Behauptung. Und in einem Punkt sind die Kleinen einen Schritt weiter als die Erwachsenen: Bei ihnen war es gar kein Problem, dass auch Mädchen Apostel spielen oder Priester.

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Und nun also die letzte Vorstellung der großen Passion. Das Wetter kann sich nicht recht entscheiden zwischen Regengüssen und Sonnenstrahlen, der Herbstwind bläst von draußen Laub auf die Bühne. In die Freude, dass diese wackelige Saison zu Ende gebracht werden konnte, mischt sich die Wehmut, dass dieses Ende nun also gekommen ist. Diese Wehmut führt dazu, dass sich einige der Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller, die an diesem Tag nicht an der Reihe sind, quasi inkognito unters Volk mischen. In der Bethanien-Szene findet sich eine neue kleine Familie im Hintergrund: Sie setzt sich zusammen aus Jesus-Darsteller Frederik Mayet mit seinen Kindern, Magdalena-Darstellerin Barbara Schuster und Judas-Darsteller Cengiz Görür. (Die Hauptrollen in Oberammergau sind alle doppelt besetzt. Wer die Premiere spielen darf, wird gelost, der oder die andere darf die Derniere spielen.)

Oberammergau: Betriebsurlaub ist das Motto der Stunde

Am Ende kommen an diesem besonderen Abend dann alle auf die Bühne. Jesus ersteht in persona auf, und das gleich doppelt. Die Türen öffnen sich, draußen stehen all die anderen Mitwirkenden im Regen und blicken herein. Auf der Bühne fließen Tränen und Spielleiter Christian Stückl spricht aus, was alle fühlen: "Es ist vollbracht." Nach einem riesigen Danke an alle und einem so verdienten Applaus, singen sie gemeinsam noch einmal das "Schma Jisrael".

Am nächsten Morgen ist der Ort leer, viele Cafés und Restaurants haben geschlossen. Betriebsurlaub ist das Motto der Stunde. Der Wechsel vom Massenauflauf und Dauertrubel zur beschaulichen Ruhe ist so abrupt wie der von langen Haaren auf eine Glatze. Auf die nächste Premiere müssen die Oberammergauer und alle anderen aber "nur" acht Jahre warten. 2030 geht er, so Gott will, wieder los: der kollektive Theaterwahnsinn im bayerischen Voralpenland.

Über die Entstehung und das Making-Of der Passionsspiele, ihre turbulente Geschichte und die Motivation der Mitwirkenden hat unsere Autorin ein Buch geschrieben: Anne Fritsch, "Theater Unser" (Verlag: Theater der Zeit, 2022, 15 Euro)

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