Doku-Theaterstück zum NSU-Prozess im Marstall: Keine Entwarnung
München - "Standing Ovations" wäre der falsche Begriff für die Reaktion des Publikums am Premierenabend, denn er lässt an Jubel denken.
Dennoch applaudierten die Zuschauerinnen und Zuschauer im Stehen. Sie zollten bewegt nicht nur der Schauspielerin, den drei Schauspielern und der Regisseurin Respekt, sondern vor allem jenen, die mit dem, was gerade im Theater verhandelt wurde, seit Jahren leben müssen und sich mit verbeugten. Es sind die Angehörigen der beiden Münchner Opfer der NSU-Attentäter, den Mördern des Nationalsozialistischen Untergrunds.
"Urteile (revisited) - Nach dem Prozess": Regisseurin Umpfenbach und der NSU-Prozess
Der Stoff beschäftigte Christine Umpfenbach schon 2014. Damals war der Prozess gegen NSU-Mitglieder am Münchner Oberlandesgericht erst wenige Monate alt.
Damals hatte sie Interviews mit den Ehefrauen, Brüdern, Freunden und Kollegen der Ermordeten einerseits, andererseits auch aus Stellungnahmen von beteiligten Anwälten und Journalisten zum Dokumentartheaterstück "Urteile" collagiert. Viel Material wurde im nun uraufgeführten Projekt "Urteile (revisited) - Nach dem Prozess" wiederverwendet.
Da wird an die Fehleinschätzung der ermittelnden Behörden und der Medien erinnert. Nach dem Tod von Habil Kiliç 2001 und Theodoros Boulgaridis 2005 war die Rede von einer "Türken-Mafia", die durch die "Döner-Morde" Konflikte innerhalb ihrer Clans mit Gewalt löse.
Zur Trauer erlitten die Angehörigen die Demütigung, als Mittäter verhört zu werden. Die Möglichkeit von rechtsradikalen Motiven galt als völlig abwegig. Eine der Anwältinnen schätzte diese Haltung als "institutionellen Rassismus" ein.
Theatrale Revision von Regisseurin Umpfenbach: Anwalt Sebastian Scharner kommt zu Wort
Aber inzwischen liegen auch die Urteile vor, die freilich gleichfalls für Debatten sorgten. Beate Zschäpe, die die Attentate zumindest plante und organisierte, wurde 2018 zwar zu lebenslanger Haft verurteilt, aber vier weitere Angeklagte aus dem Umfeld erhielten nur Haftstrafen zwischen zwei und zehn Jahren. In der theatralen Revision von Christine Umpfenbach kommt nun der Anwalt Sebastian Scharmer, der eine der Nebenklägerinnen vertrat, zu Wort.
Urteil im NSU-Prozess nur eine "Aneinanderreihung von Textbausteinen"?
Das Urteil sei nur eine "Aneinanderreihung von Textbausteinen", empört sich der Jurist. So lange man noch immer nur von "verwirrten Einzeltätern" ausgehe und nicht erkenne, dass "es sich um gefährliche Strukturen handelt", könne er im Fall der NSU "keine Entwarnung" geben.
"Urteile (revisited) - Nach den Prozessen" ist schon wegen des aktuelleren Stands der Dinge keine reine Wiederaufnahme. Mit Myriam Schröder, Delschad Numan Khorschid und Thomas Reisinger ist das Darstellerteam neu besetzt und sie gleiten durch das gesamte Personal.
Entschlossener Umgang mit ungeheuerlichen Details der vorgetragenen Schicksale
Natürlich haben auch diese eineinhalb Stunden die grundsätzliche Schwäche von Dokumentartheater, das auf Zitate und O-Töne angewiesen ist. Sie sind visuell wie Radiohören und immer auch mehr pädagogisch als dramatisch.
Aber Christine Umpfenbach geht sehr pfleglich sowohl mit den Texten als auch mit ihren Quellen um. Vor allem aber ist ihr Zugriff auf die ungeheuerlichen Details der vorgetragenen Schicksale entschlossener und auch unerbittlicher als vor sieben Jahren.
Die Premiere gehörte zur Eröffnung des Projekts "Kein Schlussstrich!" als Reaktion auf 20 Jahre NSU. 15 Theater zwischen Köln und Dresden, Hamburg und München laden bis zum 7. November zu "künstlerischen und zivilgesellschaftlichen Interventionen". Christine Umpfenbach ist auch mit "9/26 - Das Oktoberfest-Attentat" in den Kammerspielen dabei. Im dortigen Programm gibt es zudem Konzerte, Filmaufführungen und Diskussionen.
Marstall, 26.Oktober, 3., 6., 12., 29. November, 20 Uhr, Telefon 21851940, Internet: www.kein-schlussstrich.de