"Die Nase" im Nationaltheater: Oper ohne Blattgold
München - Der Grant gilt als "Blues des Südens". Was aber ein Missverständnis sein dürfte, denn eine zänkische, mürrische und schlecht gelaunte Grundhaltung scheint auch unter unseren slawischen Nachbarn einigermaßen verbreitet zu sein. Dmitri Schostakowitsch hat diesen bisweilen zu Gewaltausbrüchen neigenden Ingrimm auf unvergleichliche Weise in Musik gesetzt, und in seiner frühen Oper "Die Nase" tritt der Grant durch den Sozialistischen Realismus und den verordneten Staatsoptimismus noch gänzlich unverdorben hervor.
Regisseur lässt die Finger von Missverständnissen
Viele Inszenierungen dieser satirischen Oper nach der Novelle von Nikolai Gogol hängen der Illusion nach, dass die Geschichte von der sich verselbstständigenden Nase des Kollegienassessors Kowaljow lustig sei und schmieren da noch drauf, was im Theater als Humor gilt. Der Regisseur Kirill Serebrennikov hat sich dieses Missverständnisses glücklicherweise enthalten: Die Aufführung im Nationaltheater gibt sich maximal humorbefreit und dezidiert unlustig, was bestens zur Grundhaltung des Dirigenten Vladmir Jurowski passt, der das Böse und Grimmige hervorhebt, ohne es zur Grimasse zu verzerren.
Serebrennikov erzählt die Geschichte einer scheiternden Selbstbefreiung in einem absolut trostlosen, dumpfen, konformistischen Gesellschaft von Maskenträgern. Wenn Kowaljow aus einem Fatsuit schlüpft und kurzfristig die Matrix völliger Stupidität verlässt, darf man durchaus auch an Franz Kafkas bösen Humor denken. Irgendwann strandet er auf einem unendlich trostlosen Weihnachtsmarkt, wo ihm nichts weiter übrig bleibt, als sich zu besaufen, bis er unter den Stehtisch fällt.
Inszenierung dreht die Konstellation der Novelle
Der Regisseur hat die Konstellation der Vorlage umgedreht: Kowaljow ist kurzzeitig der einzige Nasenträger unter einer gesichtslosen Herde von Maskenträgern. Wer gegen den Konformismus aufmuckt, dem wird im Polizeigewahrsam die Nase abgeschnitten.

Auch wenn sich die Sänger beim Schlussapplaus wie befreit die Nasen-Masken vom Gesicht reißen, liefert die Inszenierung Querdenkern und sonstigen Kritikern der gegenwärtigen Verhüllungspflicht keinerlei argumentatives oder sonstwie solidarisches Material: Erstens ist der Nasenfreie dafür viel zu unsympathisch und zweitens hat Schostakowitsch gegen Ende der Oper vorgesorgt: Eine Arztszene erklärt die Homöopathie zur dümmsten Quacksalberei unter vielen dummen Behandlungsmethoden.
Polizisten tanzen Ballette mit Absperrungsgittern
Eingangs angeln Eisfischer die Glieder einer Wasserleiche, auch sonst spielt in einem trüben, eiskalten Winter, der etwas zu vordergründig für den Zustand der Gesellschaft steht. In diesem Polizeistaat gibt es nur Polizisten, die idiotische Ballette mit Absperrungsgittern aufführen und die so dumpf und dämlich sind wie Poli und Zisti in Herbert Achternbuschs Film "Das Gespenst". Wenn Kowaljow endlich wieder zum Teil der Gesellschaft geworden ist, verprügelt er aus Freude erst einmal die Insassen der Arrestzelle. Das hat dann die emotionale Zugewandtheit, mit der auch schon der brave Soldat Schwejk auf seine Umwelt reagierte.
Zweite Hälfte der Inszenierung schwächelt
Auch sonst macht sich die Aufführung keinerlei Illusionen über die brutale russische Wurstigkeit und Geringschätzung alles Individuellen. Leider ist das, wie jede Aufführung ohne halbwegs sympathische Identifikationsfigur, nicht restlos abendfüllend. In der zweiten Hälfte machen sich Ermüdungserscheinungen breit. Die Szenen gleichen sich zu sehr, und die Massenaufläufe gegen Ende der Oper wirken eher lustlos inszeniert.
Obwohl sich Vladimir Jurowski alle Mühe gibt, Schostakowtischs Schießbudenmusik mit maximaler Differenzierung auszuloten, laufen sich die Polkas, schrillen Fanfaren und kreischenden Beckenschläge irgendwann tot. Das grandiose Zwischenspiel für Schlagzeug war allerdings noch nie so aggressiv: Es rückt auf der Bühne in Richtung Zuschauer vor wie eine Gruppe adrenalingesteuerter Bereitschaftspolizisten.
Streichquartett zum Ende sorgt für Ruhe
Im Schlussbild besäuft sich Kowaljow. Dann sorgt ein eingefügter Ausschnitt aus einem Streichquartett von Schostakowitsch für etwas Ruhe. Während in dem gesichtslosen Plattenbau jemandes Leben an einem Strick endet, interessiert sich Kowaljow alkoholisiert für ein viel zu junges Mädchen: Der Zinken im Gesicht eines Mannes steht eben doch in Beziehung zum Gemächt. Da mag einen - ähnlich wie nach manchen Inszenierungen von Calixto Bieito - durchaus ein Grant auf allzu dick aufgetragenen Regisseurspessimismus überfallen, aber konsequent ist dieser vergiftet poetische Schluss schon.
Regisseur leitete die Proben per Videoschalte
Schostakowitschs Oper beschäftigt ein Riesenensemble in höchster Lage kreischender Tenöre und maximal tiefer Bässe, die teilweise mehrere Rollen übernehmen. Alle waren gleich gut, nur der Bariton Boris Pinkhasowich als Kowaljow sei extra hervorgehoben. Serebrennikov, der nach einem obskuren Prozess wegen der angeblichen Unterschlagung staatlicher Fördergelder Russland nicht verlassen darf und per Zoom auf elektronischem Weg inszenierte, nahm den einhelligen Applaus als Projektion entgegen.
Interesse an russsicher Literatur wird vorausgesetzt
Die Inszenierung setzt beim Zuschauer Interesse an russischer Literatur voraus, wer mit Oper Glanz, Melodien und Sangespracht erwartet, dürfte von diesem schlecht gelaunten Festspiel des Grotesken enttäuscht sein. Als Einstieg in die neue Ära des Intendanten Serge Dorny ist diese Neuproduktion ein Bekenntnis zum eher sperrigen und dem im weiteren Sinn politischen und gesellschaftskritischen Theater ohne Blattgoldauflage. Und die Präzision, mit der Vladimir Jurowski und das Bayerische Staatsorchester agieren, lässt Großes für die nächsten Jahre erhoffen. Und deshalb schlägt der Grant doch - wie in Bayern üblich - letztendlich in Freude um.
Wieder im Nationaltheater am 24., 27. und 30. Oktober, 2. und 5. November. Die Vorstellung der "Nase" vom 27. Oktober wird als kostenloser Livestream auf staatsoper.tv übertragen. Karten unter Telefon 2185 1920