"Der Preis des Menschen" im Marstall: Im Herrschafts-Zoo
München - Alles in dieser Welt lässt sich kaufen, nicht nur Menschen, sondern natürlich auch die Tiere. Im Zoo können dabei bestimmte Arten geschützt, aber eben auch für zahlende Betrachter wohlfeil ausgestellt werden. Doch natürlich schaut die Natur auch zurück. So erweist sich das Sammelsurium an tierischen Papp-Aufstellern, die in den Zuschauerbänken des Marstalls verteilt sind, als scheinbar blickmächtig: Da leuchten und blinzeln die Augen des Pinguins, der Giraffe, des herabhängenden Faultiers und all der anderen heiteren Gesellen.
Menschengemachte Fake-Wesen
Letztlich sind sie aber doch nur zweidimensionale, menschengemachte Fake-Wesen (Bühnenbild: Evi Bauer), deren Herkunft aus diversen Bilddatenbanken erkennbar ist. Sie sind markiert, selbst das eigene Abbild gehört ihnen also nicht, so wie Sklaven in verschiedenen Perioden der Menschheitsgeschichte ertragen mussten, das irgendwelche Herren und Damen sie als ihr Eigentum bezeichneten.
Den animalischen Machttrieben wurde immer wieder freien Lauf gelassen, der Kolonialismus steckt uns weiterhin in den Knochen, weshalb Thiemo Strutzenberger sein Stück "Der Preis des Menschen" Anfang des 19. Jahrhunderts während der napoleonischen Kriege in Portugal und Frankreich ansiedeln kann und dennoch vom postkolonialen Heute erzählt. Strutzenberger, Schauspieler und Theaterautor, hat an diesem Stück bereits gearbeitet, als er Ensemblemitglied am Theater Basel war. Andreas Beck, damals Intendant in Basel, hat ihn mitsamt Stück nach München geholt.
Arrangement ermöglicht korrekten Sicherheitsabstand
"Der Preis des Menschen" wurde gar zum Motto von Becks erster Münchner Spielzeit erkoren, aber wegen Corona fiel die Uraufführung im April flach und konnte jetzt erst nachgeholt werden. Das Arrangement im Marstall nun - das Publikum vereinzelt sitzend auf der Bühne, das Ensemble in den Zuschauerreihen - ermöglicht ein Spiel im korrekten Sicherheitsabstand.
Figuren hadern mit den Herrschaftsverhältnissen
Die Figuren, die Strutzenberger mitsamt einiger Inhaltsfäden dem 1854 erschienen Roman "Die Geheimnisse von Lissabon" von Camilo Castelo Branco entlehnt hat, gehören zwar zu einer höfisch gekleideten Oberschicht, hadern aber mit den Herrschaftsverhältnissen, die in ihrer DNA liegen. "Ich will nicht, dass Sie mir gehören", sagt der Graf von Santa Barbara zu seinem Diener Pedro, "aber gleichzeitig muss ich hinzufügen, dass ich derartig geartet bin, dass Ihr Zugehören zu mir dennoch notwendig ist."
Der Nebel dringt auch in die Zeilen
Was also ist zu tun? Strutzenberger jongliert mit den Begriffen des Gehörens und Verlassens, des Besitzens und Liebens, mit solcher Sprachlust, dass einem allein beim Zuhören der Kopf schwirrt. Der Nebel, den Michael Goldberg als Graf mit der Nebelmaschine in der Hand wirkmächtig erzeugt, dringt auch in die Zeilen. Aber es herrscht nun mal heillose Verwirrung, vor allem in den Beziehungen, weil das ökonomische Denken gnadenlos auch das Private bestimmt.
Sklavenhalter fordert von Gräfin nächtliche Dienste ein
Diener Pedro (Valentino Dalle Mura) ist eigentlich ein unehelicher Aristokraten-Sohn und wandert als Objekt der Begierde von einem Besitzer zum anderen. Ein schwarzmähniger Abt (Steffen Höld) zeigt sich den weltlichen Dingen alles andere als abgeneigt und hat eine Novizin (Massiamy Diaby) bei sich, deren Bauch sich zunächst verdächtig wölbt. Und ein Sklavenhalter, von Michael Wächter als großtuerischer, Geldbündel in die Luft werfender Geck gespielt, wetteifert mit einer verarmten Herzogin und fordert von ihr als Spieleinsatz nächtliche Dienste ein, was an die "Gefährlichen Liebschaften" von Choderlos de Laclos erinnert.
Dass am Ende Barbara Horvath als gewiefte Herzogin die Pistole in der Hand hat, erzählt von einer Machtübernahme der Frauen, die jedoch auch nicht verhindern können, dass jede Revolution sich jederzeit in ihr Gegenteil verkehren kann. So glückte der Aufstand der Sklaven in Haiti gegenüber den Kolonialherren Ende des 18. Jahrhunderts, aber Juliane Köhler berichtet als Gräfin Angela gleich zu Beginn von einem Traum, in dem sie für die weitere Zukunft des 1804 gegründeten unabhängigen Staates schwarz sieht: Haiti als das ärmste Land Lateinamerikas, mit noch mehr Sklaven als zuvor.
Lolic lässt immer wieder Zuschauerbänke abmontieren
Aus ausbeuterischen Systemen scheint es kein Entkommen zu geben, aber vielleicht schafft sich ja der Mensch wenigstens am Ende selbst ab. Immer wieder lässt Regisseur Milos Lolic den burlesken Reigen von Bühnenarbeitern unterbrechen, die, angewiesen per Funk, Zuschauerbänke abmontieren und damit herausspazieren, während die Spieler und Spielerinnen sprachlos zuschauen. Das ist nicht nur frech gegenüber dem Personal des Stücks, sondern auch gegenüber dem Stück selbst, schließlich soll es ungestört zur Uraufführung kommen, oder nicht?
Lolic nimmt sich diese und andere Freiheiten; Strutzenbergers Werk profitiert davon, weil seine inneren Brüche eine inszenatorische Entsprechung finden. Der Firnis der Zivilisation wird von den "Dienern" des Theaterbetriebs professionell-nüchtern abgebaut. Dafür gibt es dann noch mehr Platz für noch mehr Tiere. Das ist so bitter wie es lustig ist.
Marstall, wieder am: 23., 24. Oktober; 2. und 13. November, 20 Uhr; 25. Oktober, 15. November, 19 Uhr; Karten 089 2185 1940
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