Kritik

"Das Erbe" in den Kammerspielen: Am Thema vorbeigemogelt

Die Uraufführung von Nuran David Calis' Theaterstück "Das Erbe" in den Münchner Kammerspielen.
Mathias Hejny |
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Mehmet Sözer vor dem dominierenden Lüster in Pinar Karabuluts Inszenierung von "Das Erbe" in den Kammerspielen.
Mehmet Sözer vor dem dominierenden Lüster in Pinar Karabuluts Inszenierung von "Das Erbe" in den Kammerspielen. © Krafft Angerer

München - Am Beginn ist das Ein-Familien-Schlösschen der Dogans in einer Breitwandprojektion zu sehen.

Das überrascht im ersten Moment, denn der historische Hintergrund für die Uraufführung in den Kammerspielen ist das Attentat rechtsradikaler Terroristen auf ein von türkischen Immigranten bewohntes Mietshaus in der holsteinischen Kleinstadt Mölln, das auf den Tag genau 30 Jahre zurückliegt. Drei Menschen starben, und die beiden Täter sind nach Verbüßung ihrer Haftstrafen wieder auf freiem Fuß.

Unternehmerfamilie erfährt am Tag der Beisetzung des Patriarchen vom Anschlag in Mölln

Aber der Dramatiker Nuran David Calis erzählt in seinem neuen Stück nicht in erster Linie die Ereignisse vom 23. November 1992. Er spiegelt sie in einer milliardenschweren Unternehmerfamilie, die in den 1960er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam und einen internationalen Logistik-Konzern aufbaute. Der Patriarch ist soeben gestorben, und die in ganz Europa verstreut lebenden Kinder versammeln sich um die kranke Mutter (Sema Poyraz). Aus dem Radio erfahren sie am Tag der Beisetzung vom Anschlag in Mölln.

Der Jüngste ist der 28-jährige Halil (Mehmet Sözer), der in München in den noch im gerade erst entstehenden Mobiltelefonmarkt einsteigt, um der belastenden Gründer-Legende des Vaters zu entgehen. Die mittlere Tochter Leyla (Zeynep Bozbay) lebt wieder in der Türkei mit Ehemann und Kindern. Der Paradiesvogel ist die 35-jährige Arzu (Elmira Bahrami), die in London eine Kunstgalerie betreibt. Ihre lesbische Orientierung hat sie den traditionellen Eltern gegenüber verborgen.

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Weder deutsch-deutsches noch deutsch-türkisches Erbe scheinen erstrebenswert 

Leyla hasst Deutschland und entdeckt in sich den islamisch geprägten Nationalismus in ihrer Heimat. Sie hat Sympathien für einen aufstrebenden Politiker namens Erdogan. Neben dieser west-östlichen Konfliktlage spiegelt sich wiederum im 62-jährigen Gerhard (Stefan Merki), dem Gärtner der Dogans, und seinem Neffen Bernd (Vincent Redetzky) auch deutsche Geschichte. Der Onkel hatte nicht nur den Osten, sondern auch seine Familie verlassen.

Weder eine deutsch-deutsche Hinterlassenschaft noch deutsch-türkisches Erbe erscheinen der ersten Generation danach erstrebenswert und die Frage nach einer nationalen Identität stellt sich neu. Womit sich der Kreis zu den Neonazis von Mölln, Lichtenhagen und anderswo schicksalhaft zu schließen droht. Diese Verstrickung macht "Das Erbe" tatsächlich zu einer modernen Tragödie, wie Calis die Gattung seines Stücks nennt. Das ist alles ungeheuer klug konstruiert, und genau das ist das Problem.

"Das Erbe": Mehr gut gemeintes als gut gemachtes Theater

Die Figuren zwischen Assimilation und kultureller Selbstfindung sind weitgehend empathiefrei am Reißbrett entworfene Thesenträger, die sich durch jeden nur erdenklichen Aspekt des weitläufigen Stoffs leitartikeln. Für Regisseurin Pinar Karabulut, die dazu neigt, nicht nur quietschmunter und ohne Furcht vor Verlusten Texte auf Krawall zu bürsten, ist das eine Herausforderung. Aber in diesem Fall vollstreckt sie die Uraufführung bedauerlich artig.

Bühnenbildnerin Aleksandra Pavlović baute einen Ort von sakraler Dimension mit weitem Rundhorizont und einem dominierenden Lüster. Zusammen mit den längeren Videosequenzen (Susanne Steinmassl), Karabuluts nicht wirklich sinnstiftenden Choreografien und ihren oft leblosen szenischen Arrangements in der Tiefe des Raums mogelt man sich 100 Minuten lang wichtigtuerisch am wichtigen Thema vorbei. Der Jubel am Ende gilt mehr einem zweifellos gut gemeinten als einem gut gemachten Theater.


Münchner Kammerspiele, wieder am 1., 3., 15. Dezember, 20 Uhr, Telefon 23396600

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