C. Bernd Sucher über sein neues Buch - und die Kammerspiele

"Gefällt mir“ und „Gefällt mir nicht“: Dieses Urteil über eine Theateraufführung ist rasch gefällt. In seinem neuen Buch „Der kleine Theaterversteher“ erklärt Kritik-Professor C. Bernd Sucher, wie ein man als Zuschauer zu einer begründeten Meinung kommt.
AZ: Herr Sucher, ist Theater heute so kompliziert, dass man eine Gebrauchsanweisung braucht?
C. Bernd SUCHER: Ich glaube schon. Bei Otto Schenk wusste man: Die Dachkammer in Puccinis „La bohème“ ist eine Dachkammer. Heutige Regisseure suchen nach neuen Bildern. Sie bedienen sich bei der Bildenden Kunst und im Film. Und da gilt: Wenn man etwas nicht versteht, kann es auch an einem selbst liegen.
Hat man bei Peter Stein oder Claus Peymann immer alles auf Anhieb verstanden?
Es ist schwieriger geworden, weil mehr passiert – etwa wenn Videos vor, neben und hinter der Bühne laufen.
Der Untertitel des Buchs „Alles, was auf, vor und hinter der Bühne geschieht“ haut ganz schön auf den Putz.
Mir hätte „Schule der Wahrnehmung“ gereicht – und sonst nichts. Auf Wunsch des Verlags habe ich eine längere Einleitung über Theaterberufe geschrieben. Die fand ich eher nicht so spannend. Aber den Lesern gefällt das, weil man erfährt, was ein Dramaturg oder ein Light Designer macht. Und das gehört auch zum Thema: Ein Regisseur ist nichts ohne sein Team.
Warum enthält Ihr Buch viele Beispiele aus der Bayerischen Staatsoper?
Ich habe dort längere Zeit ein Seminar für Zuschauer abgehalten. Wir trafen uns nach der Aufführung mit einem Dramaturgen. Es war verboten, zu sagen: „Das gefällt mir nicht“. Die Aufgabe war, zu beschreiben, was man gesehen hat. Auf diese Weise wurden die Teilnehmer vorsichtiger mit ihren Urteilen.
Bei welcher Inszenierung zum Beispiel?
In Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ haben die Frauen des Chors einmal Spiegel in der Hand. Das ergab für manche Zuschauer keinen Sinn. Dann haben wir in den Text geschaut: Sie singen „Ich suche einen Mann“. Dann ratterte es in den Köpfen: Die Leute begriffen, dass die Frauen mit den Spiegeln einen Mann im Zuschauerraum suchen. Es war kein dämlicher Regieeinfall mehr, sondern eine entschlüsselbare Idee.
Muss man vor dem Theaterbesuch das Stück lesen?
Unbedingt. Sonst bekommt man nicht mit, was gestrichen oder hinzugefügt wurde. Ich habe vor jedem neuen „Hamlet“ das Stück gelesen. Vor ein paar Jahren gab es in einem „Clavigo“ der Salzburger Festspiele eine ferkeliges Zwischenspiel, über das sich viele Leute aufgeregt haben. Aber es war ein Text von Johann Wolfgang von Goethe. Solche Veränderungen nimmt man nur wahr, wenn man das Stück gelesen hat.
In Ihrem Büro in der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film hängen große Fotos von Gisela Stein, Peter Lühr und Thomas Holtzmann. Setzt die Ära Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen für Sie bis heute Maßstäbe?
Meine Arbeit als Kritiker fing an mit Dorn. Ich finde immer noch, dass das wunderbar gearbeitete Aufführungen waren. Je länger die Dorn-Ära dauerte, desto eher wusste man allerdings, was kommt. Das Überraschungsmoment war irgendwann weg.
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Der bevorstehende Abschied von Brigitte Hobmeier an den Münchner Kammerspielen hat eine Debatte ausgelöst, bei der Schauspieler gegen Performer in Stellung gebracht werden.
Diesen Wandel gibt es seit 15 Jahren. Nur nicht in München. Schauspieler spielen nicht einfach nur eine Rolle. Man schaut einem Schauspieler beim Entwickeln einer Figur zu.
Sie sind also nicht überrascht?
Die aktuelle Aufregung hätte sich vermeiden lassen, wenn bei der Berufung von Matthias Lilienthal zum Intendanten klar gesagt worden wäre: Hier kommt jemand, der alles anders macht. Und seid nicht enttäuscht, wenn manche Schauspieler gehen.
Das passiert ohnehin auch an anderen Theatern.
Die Debatte ist mehr die Folge mangelnder Aufklärungsarbeit. Lilienthal macht genau, was man von ihm erwartet hat und was der städtische Kulturreferent Hans-Georg Küppers in Berlin im Hebbel am Ufer gesehen hat. Jetzt zu schreien, ist zu spät.
Ihre Prognose?
Die Stadt wird Lilienthal nicht fallenlassen. Die Frage ist nur, ob sein Vertrag verlängert wird.
Gehen Sie gern in die Kammerspiele?
Mein Ding ist das auch nicht wirklich. Nicht, weil es performativ ist, sondern weil kaum Zeit ist, die vielen Gastspiele genauer kennenzulernen. Viele Aufführungen sind zwei Tage da und dann wieder weg.
Kehrt irgendwann das Schauspielertheater alter Schule zurück?
Es ist ja nicht völlig ausgestorben. Im Deutschen Theater in Berlin wird es weiter gepflegt. Theater folgt immer Moden. Und die Textflächendramatik von Elfriede Jelinek ist mittlerweile auch schon 20 Jahre alt. Irgendwann wird man auch wieder wie Otto Schenk inszenieren.
C. Bernd Sucher: „Wie es euch gefällt. Der kleine Theaterversteher“, (Verlag C.H. Beck, 272 Seiten, 16.95 Euro).
Der Autor stellt sein Buch am Dienstag, 29. November, im Gartensaal des Prinzregententheaters vor (Eintritt 8 Euro).