Auf den Kern gebracht: "Die Brüder Karamasow" im Volkstheater
München - Woher Christian Stückl die Kraft genommen hat, nach den Passionsspielen in Oberammergau zum Jahresende auch noch Fjodor Dostojewskis 1.000-seitigen Roman "Die Brüder Karamasow" auf die Bühne 2 seines Volkstheater zu hieven, lässt sich natürlich nur vermuten.
Christian Stückl beschränkt sich auf das Notwendigste
Aber offenbar schenkt die Begeisterung fürs Theater und die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen dem Intendanten und Regisseur immer wieder neue schöpferische, wenn nicht gar göttliche Energie.
Den Versuch, die Handlung von Dostojewskis letztem Roman von vorne bis hinten durchzuexerzieren, mit allen Rückblicken, Ich-Erzählereinschüben und Seitensträngen, hat Stückl in seiner selbst erstellten, kondensierten Fassung gar nicht erst unternommen. Das wird schon am Anfang klar, wenn gleich mehrere Figuren aus dem Familien- und Bekanntenkreis der Karamasow ihre Position zum Glauben, zum Verhältnis von Staat und Kirche, zur Liebe sich gegenseitig kundtun – eine großartige Szene, die Stückl aus verschiedenen Stellen des Romans zusammengepuzzelt hat.
"Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt"
Sogleich gewinnen die einzelnen Figuren Konturen, von Alexej, dem jüngsten Karamasow-Sohn, der sich für ein Dasein als Mönch entschieden hat und meint, dass man über den Weg der Nächstenliebe zum Glauben an Gott und die unsterbliche Seele gelangen kann, bis hin zu Iwan, dem mittleren Sohn, der im geistigen Gefolge von Voltaire zwar nicht an Gott glaubt, aber es zum Zwecke der Ordnung für notwendig hält, dass die Menschen sich einen erfinden: "Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt."
Bühne als offener Diskussionsraum
Alles ist erlaubt – das könnte auch eine Devise für Stückls eklektische Inszenierung sein. Die von Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier eingerichtete, bis auf ein paar Stühle leere, an den Seiten leicht, in der Mitte stark gewellte Bühne eignet sich vorzüglich als offener Diskussionsraum, in dem sich die Figuren immer wieder neu positionieren und von einem Moment zum anderen in die Über- oder Unteransicht gelangen, während über allem ein zweigleisig leuchtendes Rechteck schwebt.
Eine höhere Instanz gibt es ja immer, und wenn es nur das eigene Gewissen ist. Die ausgedehnte Gerichtsverhandlung zum Roman-Finale, in der eine zum Teil aus Bauern bestehende Jury über Schuld und Unschuld des ältesten, wegen Mordverdachts angeklagten Karamasow-Sohns Dimitri entscheidet, hat Stückl gestrichen. Stattdessen sitzt das Publikum als Ersatz-Gericht in zwei bis fünf Reihen um die Bühne und ist eingeladen, sich ein eigenes Urteil über das turbulente Treiben zu bilden.
Rabenvater zwischen Freigeist und Gefühlsausbrüchen
In seinen Werken lässt Dostojewski die Emotionen gerne hochkochen, Stückl in seinen Inszenierungen auch, was auf der Bühne zu einigen lautstarken Ausbrüchen führt. Seinen Gefühlshaushalt am wenigsten unter Kontrolle hat der Vater der Karamasow-Brüder, Fjodor, ein Lebemann mit bösem Drang zum Schabernack. In Schlabberhosen und mit Zottelbart, dauersaufend, rülpsend und mit seinen ausschweifenden Reden und Zeige-Gesten den Raum einnehmend, macht Pascal Fligg aus dieser Figur eine Glanznummer zwischen räudigem Clown, gewitztem Freidenker und boshaftem Rabenvater.
Frauenrollen leider blass
Dass Fjodor mit seinem Sohn Dimitri um dieselbe Frau konkurriert, wird zum potenziellen Mordmotiv. Wieso sie aber beide in Gruschenka vernarrt sind, kann Ruth Bohsung leider nicht ganz nachvollziehbar machen. Gekleidet im Leoparden-Catsuit und mit blondem Schopf muss sie die Verführerin geben, die einem polnischen Offizier nachhängt, "der sich früher an mir vergangen hat", und mit den anderen Männern nur noch gelangweilt spielt. Auch Katerina Iwanowna, der Verlobten Dimitris, wird wenig echtes Gefühl eingeräumt. "Wie auf einer Bühne spielen sie Komödie", wirft ihr der sonst so zurückhaltende Alexej vor. Dementsprechend unterkühlt wird sie von Pola Jane O'Mara verkörpert.
Fulminante Inszenierung mit behelfsmäßigem Ende
Die Beziehungen werden immer wieder durch geldliche Sorgen und Leihgaben vergiftet. Dimitri, mit Sturm und Drang von Anton Nürnberg gespielt, steht im Verdacht, nicht nur seinen Vater getötet, sondern von diesem 3.000 Rubel entwendet zu haben. Den zentralen Kriminalfall spielt Stückl in der zweiten Hälfte in aller Eile durch und näht seine Inszenierung behelfsmäßig zu.
Gerade in der ersten Hälfte gelingen ihm jedoch einige dichte, von seinem Ensemble großartig gespielte Momente. Wenn Jakob Immervoll als Iwan im gedimmten Licht bis ins grausame Detail von Gewalttaten gegenüber Kindern berichtet, ist das nicht nur für den zuhörenden Alexej beklemmend. Mit seiner frommen Ruhe, als Mann mit kindlich-reinem Herzen bietet sich Lorenz Hochhuth insgesamt als Identifikationsfigur an.
Mitfiebern konnte man mit Janek Maudrich, der einen Tag vor der Premiere für den plötzlich ausfallenden Silas Breiding einsprang und in die Rolle des Dieners Smerdjakow schlüpfte. Innerhalb von 24 Stunden eignete Maudrich sich den, zum Teil durch Stückl noch eilends gekürzten, Text an und hatte eine vielschichtige Rolle zu spielen. Wie Maudrich diese Aufgabe mit, zumindest äußerlicher, Gelassenheit meisterte, war für sich schon ein kleines Wunder.
Nächste Vorstellung siehe Website: www.muenchner-volkstheater.de
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