Weniger Stress durch Vogelbeobachtung: "Man schaltet ab und vergisst alles um sich"
AZ: Frau Nelson, Sie haben Ihr Buch "Die Kraft der Vogelbeobachtung" genannt. Was ist denn genau mit Kraft gemeint?
ANGELIKA NELSON: Es ist ja so, dass viele von uns im Alltag gestresst sind, recht viel zu tun haben, ständig die Aufmerksamkeit gefordert ist. Das zehrt an unseren Kräften. Wenn wir Vögel beobachten, konzentrieren wir uns auf den Moment, vergessen den Alltag und tanken so Kraft für neue Aufgaben.
Biologin Angelika Nelson: "Man vergisst alles um sich herum und das entspannt uns"
Wie kann es da genau helfen, die Tiere zu beobachten?
Die Vogelbeobachtung gibt uns kurze Auszeiten aus dem Alltag. Einfach indem man hinausgeht, mal wirklich abschaltet, sich mit den Vögeln auseinandersetzt und sie beobachtet. Sie haben nämlich viele spannende Verhaltensweisen: Man kann etwa beobachten, wie sie sich verpaaren, wie sie Futter suchen, wie sie miteinander kommunizieren, oder wie sie in Schwärmen zusammenkommen. Beim Beobachten ist dann unsere Aufmerksamkeit nur auf das gelenkt und man denkt an nichts anderes mehr. Man vergisst alles um sich herum und das entspannt uns.
Hätte das Betrachten anderer Tiere ähnliche Effekte?
Wahrscheinlich schon. Der Vorteil bei Vögeln ist, dass sie wirklich leicht zu beobachten sind und überall vorkommen. Und sie sind, anders als zum Beispiel Insekten, recht leicht zu sehen: Denn sie sind relativ groß, bewegen sich und viele von ihnen sind bunt gefärbt. Säugetiere sind zudem meistens nachtaktiv. Der Großteil der Vögel hingegen ist auch am Tag unterwegs – und wir Menschen eben auch.

"Unser Glückshormonlevel steigt, wenn wir Vogelgesang hören"
Hat das Vogelbeobachten neben der Entspannung noch andere gesundheitsfördernde Aspekte?
Ja, das ist wissenschaftlich bewiesen. Einerseits hilft es unserer Gesundheit, wenn man in der Natur draußen ist, sich bewegt und spazieren geht. Außerdem senkt sich das Stresslevel, wenn man abschaltet und sich beim Vogelbeobachten entspannt. Und dazu steigt auch unser Glückshormonlevel, wenn wir zum Beispiel Vogelgesang hören.
Wie kommt das?
Der Gesang spricht uns sehr an, fast so wie unsere Lieblingsmusik, die eben auch Glücksgefühle hervorruft.
Warum nicht einfach nur Spazierengehen, wieso ist gerade diese Aktivität so wertvoll für die Gesundheit?
Wenn man nur spazieren geht, ist es schwierig, abzuschalten. Unsere Gedanken kreisen ja trotzdem noch um irgendwelche Bürosachen, Familie oder was auch immer uns beschäftigt. Wir brauchen da schon etwas, das uns aus dem Ganzen rausholt. Und dafür sind Vögel gut geeignet, weil sie uns immer über den Weg fliegen und uns ablenken können.
Beobachtung von Vögeln: Verschiedene Sinne werden angesprochen
Spielen neben dem Hör- und Sehsinn noch andere Sinne eine Rolle?
Hör- und Sehsinn sind die zwei hauptsächlichen Sinne beim Vogelbeobachten, aber man kann das noch weiterspinnen. Der Tastsinn kann angesprochen werden, wenn man zum Beispiel eine Vogelfeder am Boden findet und in die Hand nimmt. Der Geschmackssinn wäre bedient, wenn man einmal schaut, was ein Vogel so frisst und selber mal eine Beere isst. Und abstrakter gedacht: Wenn wir sehen, dass so etwas wie die Nahrungssuche für ein anderes Lebewesen eben ganz schwierig sein kann, relativiert das auch unsere eigene Denkweise. Wir hingegen können einfach in den Supermarkt gehen und uns was zum Essen kaufen.
"Es gibt immer und überall Vögel, die man beobachten kann"
Gibt es für Einsteiger Vögel, die sich besonders gut anbieten?
Wenn man noch nie Vögel beobachtet hat, ist es am besten, man geht einfach erstmal vor die Haustür. Und dann schaut man, ob sich etwas bewegt oder vorbeifliegt. Das sind meistens die häufigen Gartenvögel oder auch Vögel, die mit uns Menschen ganz gut klarkommen. Das wären beispielsweise die Amsel im Garten, die Kohlmeise, die Blaumeise, der Hausspatz oder selbst die Straßentaube.
Das ist also spontan möglich.
Genau. Ich mach das zum Beispiel selbst auf dem Weg zur Arbeit, oder wenn man irgendwo auf dem Bahnsteig steht und auf den Zug wartet. Es gibt immer und überall Vögel, die man beobachten kann. Man braucht auch nicht viel Zeit. Man kann das in einer Minute machen, wenn man einfach mal durchatmen will. Oder man kann damit natürlich auch Stunden verbringen. Ganz wie man möchte.
"Enten sind schöne Einsteigervögel"
Was wären denn Orte, die sich ganz besonders dafür anbieten, auch in der Stadt?
Gerade in den Städten gibt es ja oft Parks oder Flüsse und Teiche. Da kann man dann Entenvögel entdecken, die recht groß sind und sich relativ langsam bewegen. Das sind schöne Einsteigervögel, wo man leicht mit der Beobachtung beginnen kann. Sonst natürlich in grünen Gegenden. Aber selbst wenn man in der Innenstadt ist, kann es eben sein, dass da Spatzen oder Tauben vorbeikommen.

Was sollte man dabei beachten – und gibt es auch Tabus?
Auf jeden Fall sollte man die Vögel nicht stören. Das Schöne an der Beobachtung ist ja, dass man eben sieht, was die Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum machen – und das soll ungestört von uns geschehen. Schön ist auch, wenn man die Freude an der Vogelbeobachtung an andere weitergibt.
Die eigenen Beobachtungen reflektieren
Sie empfehlen auch, dass man ein Naturtagebuch führt. Wieso hilft das genau?
Dadurch reflektiert man seine eigenen Beobachtungen. Das heißt, man nimmt sie noch mal bewusster wahr. Wenn man versucht, die Vögel zu erkennen und sich zu merken, welche verschiedenen Merkmale sie haben, fördert das auch die mentale Gesundheit. Beim Landesbund für Vogel- und Naturschutz gibt es ein Projekt für Senioren, wo wir Futter für Vögel in Pflegeeinrichtungen aufstellen. Es ist wissenschaftlich bewiesen worden, dass Leute, die etwa an Demenz erkrankt sind, durch die Vogelbeobachtung mehr reden, sozialer sind und sich besser erinnern können.
Wenn die mentale Gesundheit also verbessert wird, könnte das Beobachten dann als Therapiemethode eingesetzt werden?
Das wird sie sogar teilweise schon. In einigen Ländern wie Großbritannien wird die Vogelbeobachtung als Alternative zur Medizin verschrieben. Dort empfehlen die Ärzte sogar bei manchen explizit, in die Natur hinauszugehen und Vögel zu beobachten. Diese positiven Effekte sind eigentlich schon relativ lang bekannt. In einem wissenschaftlichen Journal wurde sogar schon 1979 publiziert, dass "Ornitherapy", also Vogeltherapie, bei Leuten, die für längere Zeit im Krankenhaus liegen, eine positive Wirkung auf ihren Heilungsprozess hat.
"Die Kraft der Vogelbeobachtung" von Angelika Nelson und Holly Merker ist ab sofort im Handel erhältlich; 288 Seiten; 29,90 Euro
Dr. Angelika Nelson ist Biologin und Ornithologin beim Landesbund für Vogel- und Naturschutz.
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