Rätsel um vermehrte Orca-Angriffe: Gefährliche "Schwarm"-Intelligenz?
Es ist ein windarmer September-Vormittag im vergangenen Jahr, an dem ein Unternehmer aus Bayern und seine Begleiterin mit ihrer Segelyacht westlich der spanischen Hafenstadt Vigo kreuzen. Scheinbar aus dem Nichts heraus stoppt plötzlich ein gewaltiger Schlag das Boot. Der Skipper blickt ins Wasser – und sieht den schwarz schimmernden Rücken eines sechs Meter langen Orca-Weibchens neben sich auftauchen.
Ganz langsam schiebt sich der Schwertwal unter das Schiff und nimmt Kurs auf dessen Ruder. Er verbeißt sich darin, schlägt wild mit der gewaltigen Schwanzflosse, dreht die Yacht wie ein Spielzeug-Schiff im Kreis, bis das Ruder zerbirst. Dann durchbricht er die Wasseroberfläche, schnaubt heftig – und verschwindet.
Immer häufiger greifen Orcas Boote auf offener See an
Was klingt wie eine Episode aus Frank Schätzings Roman "Der Schwarm", ist auf der "Orca Alley", wie britische Segler die Route von Brest durch die Biskaya und weiter über den Atlantik nach Gibraltar nennen, gefährliche Realität.
Seit im Sommer 2020 in der "Gasse der Killerwale" erstmals ein Boot von einem dieser Meeressäuger mutwillig beschädigt wurde, hätten dort mindestens 400 Interaktionen stattgefunden, schreibt der passionierte Segler Thomas Käsbohrer in seinem soeben erschienenen Buch "Das Rätsel der Orcas".
Bei 80 Prozent der Angriffe hatten die Tiere es auf Segelyachten von acht bis 15 Meter Länge abgesehen. Die Schätzungen darüber, wie viele Schiffe bei diesen Zwischenfällen demoliert wurden, reichen von rund 300 bis weit über 500, wenn man davon ausgeht, dass nicht jedes Orca-Intermezzo gemeldet wird.
Zur Sicherheit: Spanische Regierung hat Sperrzonen ausgerufen
Mindestens zwei Boote sanken, weil die Schwertwale bei ihrer Attacke den Rumpf aufrissen. Die Besatzungen konnten jeweils in letzter Minute gerettet werden. Forscher haben eine stetig anwachsende Gruppe halbstarker Schwertwale aus der bedrohten Population der Orca Iberica identifiziert, die rund um die Westküste der Spanischen Halbinsel Jagd auf Segler machen, und die sie "Rüpel-Orcas" oder "Rowdies" nennen.
"Was 2020 mit drei Tieren begann, die gegen Boote vorgingen, das praktizieren zwei Jahre später mindestens 16 Tiere", schreibt Thomas Käsbohrer. "Vermutlich ist ihre Zahl noch größer, und sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach weiter steigen."
Längst ist das Problem so virulent, dass die spanische Regierung vor Barbate und Zahara de los Atunes – traditionelle Fangzentren des Thunfischs, der Leibspeise der Orca-Iberica-Schwertwale – Sperrzonen für Segler ausgewiesen und Verhaltensregeln für Begegnungen mit Tieren veröffentlicht hat: Segel einholen, Maschine abstellen, Geräte ausschalten.
Autor Thomas Käsbohrer hatte Glück im Unglück
Erfolgreich waren die Maßnahmen nur in Einzelfällen. Käsbohrer, der südlich des Starnberger Sees lebt, hat für sein Buch mit 40 Skippern gesprochen, die auf die eine oder andere Art mit Orcas Bekanntschaft gemacht haben. Er hat Wissenschaftler, Walschützer und Tiertrainer interviewt, um herauszufinden, warum die Meeressäuger Schiffe angreifen.
Und er hat selbst erlebt, wie ein Schwertwal unweit der Straße von Gibraltar seine Yacht "Levje" ins Visier nahm. "Er kam mit Wumms auf uns zu – wie ein testosterongeschwängerter Olympionike bei einem Wettkampf über 200 Meter Schmetterling", erzählt der Segler der AZ. Angst habe er in diesem Moment nicht verspürt. "Ich war einfach nur fasziniert. Aber ich glaube, dieses Gefühl kippt, wenn sich neun Tonnen Lebendgewicht gegen die dünne Bordwand werfen."
Der Iffeldorfer und seine "Levje" hatten Glück: Als das Tier nur noch etwa 50 Meter vom Boot trennen, dreht es ab. Aber zurück zur Ursachenforschung. Ein Teil des Rätsels, warum Orcas Yachten angreifen, scheint relativ leicht zu lösen – nämlich, warum sie es auf die Steuerruder abgesehen haben. "Das ist das unter Wasser am einfachsten zu zerstörende Teil", sagt Käsbohrer. Doch warum blasen sie überhaupt zur Attacke auf Boote? Zumal kein einziger Fall bekannt ist, bei dem ein Orca in freier Wildbahn einen Schwimmer, Schnorchler oder Taucher angegriffen hätte.
Attacken haben unterschiedliche Gründe
Im Buch diskutiert der Autor verschiedene denkbare Auslöser: Hunger; Krankheiten, verursacht durch Parasiten, PCB oder andere Umweltgifte, die sich in den Gehirnen der Wale ablagern; Schmerz infolge von Verletzungen durch Fischerei-Leinen; Lärm durch die zunehmende Schifffahrt. Oder folgen die Tiere schlicht einer Mode?
Was ulkig klingt, wurde in der Natur tatsächlich beobachtet: Im Februar 2022 posteten kanadische Meeresschützer das Foto eines jungen Schwertwals, der einen toten Lachs auf dem Kopf balancierte. Ein Twitter-User, den Käsbohrer zitiert, schrieb daraufhin, das Tier mit dem Namen "Alder" sei nicht der erste Hut-Träger: "1987 begann ein Orca, überall mit einem toten Lachs auf dem Kopf herumzuschwimmen, was bald zu einer beliebten Modeerscheinung wurde, da andere Orcas dieses Verhalten schnell nachahmten."
Nach ein paar Wochen allerdings hätten die Schwertwale das Interesse verloren – „wie bei jeder Mode-Erscheinung“. Schwertwale gehören zur Familie der Delfine, von denen Vergleichbares berichtet wird: Thomas Käsbohrer erzählt die Geschichte des freilebenden Bottleneck-Weibchens "Billie", das für kurze Zeit in einem Delfinarium mit dressierten Artgenossen gelebt und sich von ihnen einen Trick abgeschaut hatte. "Sie beherrschte die Kunst, rückwärts mit aufrechtem Körper auf ihrem Schwanz über die Wellen zu reiten, ihre Schnauze stolz in den Himmel gereckt."
In manchen Dingen sind Orcas Menschen sehr ähnlich
Damit nicht genug: Mindestens zwei wilde Delfine machten wiederum „Billie“ dieses Kunststück über Jahre nach."Die Lösung des Rätsels der Orcas liegt eigentlich vor aller Augen offen", sagt Thomas Käsbohrer, "es will sie nur keiner sehen". Der Mensch neige zu monokausalen Erklärungen, doch die gebe es hier nicht. Dass Orca-Gruppen Boote angreifen, habe viele Gründe: Spiel, Aggression, Training für die Jagd, die Kiefermuskulatur, die Koordination mit anderen Tieren. Außerdem liege es offensichtlich gerade im Trend.
Hinzu kommt: "Sie tun es, weil sie es können, weil ihnen niemand Grenzen setzt." In dieser Hinsicht seien Orcas genau so schwer erziehbar wie der Mensch. "Auch wir vernichten Insekten-Arten, zerstören das Klima und holzen den Regenwald ab – weil uns niemand Grenzen setzt." Und das ist bei Weitem nicht die einzige Parallele zwischen den Spezies. "Der Lebenszyklus der Orcas ähnelt dem unseren" sagt der Autor. "Sie können bis zu 90 Jahre alt werden und füttern ihr Baby, bis es elf ist. Weibchen werden mit 13 geschlechtsreif, Männchen später. Und ihre Körpertemperatur beträgt wie unsere 37 Grad."
Doch es gibt auch gravierende Unterschiede. Das Gehirn der hochintelligenten Tiere wiege 5,2 Kilogramm und sei viel enger gefaltet als das 1,4 Kilo leichte menschliche Pendant. "Außerdem gibt es keine Hinweise darauf, dass sie jemals aufeinander losgegangen sind." Im Gegenteil. Alles, was die Tiere täten, diene dem sozialen Zusammenhalt der stets von einem älteren Weibchen angeführten Gruppe.
Orca-Angriffe – Vielleicht nur ein Trend und bald wieder vorbei?
"Zehn Prozent ihrer Zeit verbringen sie mit der Jagd, 90 Prozent mit Socializing" – so habe es einer der von ihm interviewten Forscher erklärt, sagt Käsbohrer. Das gelte auch während der Interaktionen mit Booten. "Aber der Mensch hat verlernt, das von außen zu betrachten. Wir beziehen jedes Verhalten auf uns, statt zu sehen, dass es auch der Kommunikation innerhalb ihrer Gruppe dient."
Wie wird es weitergehen in der "Gasse der Killerwale"? Thomas Käsbohrer glaubt, dass die Zahl der Attacken zunächst weiter zunimmt. In der Vergangenheit seien die Gewässer dort von Mitte Dezember bis Mitte Februar weitgehend "orcafrei" gewesen – in diesem Winter habe es jedoch viele Attacken gegeben. Außerdem sei vor kurzem erstmals eine Schwertwal-Interaktion mit einer Yacht vor Norwegen gemeldet worden. Doch irgendwann werde das Phänomen vermutlich wieder verschwinden – "wie der Lachs-Hut, der in den 1980ern ein oder zwei Sommer in Mode war".
Thomas Käsbohrer:„Das Rätsel der Orcas. Wie Orcas sich das Meer zurückholen. Warum sie Boote angreifen.“ Verlag Millemari, 24,95 Euro, Hörbuch: 16,99 Euro.
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