Interview

Prachtband "Welt der Renaissance": Liebe, Pest und Schmuddelkram

Der Münchner Lyriker Tobias Roth hat die "Welt der Renaissance" in einen Prachtband gepackt und gibt mit famos übersetzten Originaltexten Einblick in eine durch und durch aufregende Epoche. Der Herausgeber im AZ-Interview.
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Sandro Botticellis "Geburt der Venus" ist ein Meisterwerk der Renaissance-Malerei
Sandro Botticellis "Geburt der Venus" ist ein Meisterwerk der Renaissance-Malerei © Archiv

München - Sex, Verbrechen und Rock 'n' Roll - die italienische Renaissance ist voll davon. Denn die Dichter besingen lange nicht nur die hehre Schönheit. Die Orientierung an der Antike zeigt ihnen, dass alles erlaubt ist, man muss es nur in kunstvolle, unterhaltsame Worte kleiden.

Der Münchner Lyriker und Übersetzer Tobias Roth hat einen Prachtband zusammengestellt, der das ganze Spektrum vor Augen führt: von den innigen Liebesgedichten Petrarcas bis zu grausigen Szenen aus Zeiten der Pest, vom Kampf der Geschlechter bis zum Kaviar-Rezept des päpstlichen Küchenchefs. Sämtliche Autorinnen und Autoren sind von Roth prägnant porträtiert. Das erklärt ihre Auffassung und ihre Rolle in dieser regelrechten Kulturrevolution.

AZ: Herr Roth, wenn Botticelli, Leonardo oder Raffael ausgestellt werden, stehen die Menschen Schlange. Warum sollten wir 500 Jahre alte, überwiegend unbekannte italienische Literatur lesen?
TOBIAS ROTH: Aus demselben Grund! Die Literatur kommt aus der gleichen Kultur und man darf vergleichbare ästhetische Genüsse erwarten. Es geht hier genauso um eine schöne, beschwingte Darstellung des Menschen. Und wir haben es mit einer großen Feinheit zu tun, nichts erschlägt einen, sondern alles ist immer auf das menschliche Maß abgestimmt. Die Dichter und Maler sind ja auch im ständigen Austausch miteinander.

Was war für Sie denn eine echte Entdeckung?
Mich hat der große florentinische Dichter Angelo Poliziano begeistert. Er war einer der besten Freunde von Lorenzo de Medici, hat Botticelli bei seinen großen Gemälden beraten. Michelangelo besuchte sogar seine Vorlesungen. Und mit seiner Lyrik hat mir Giovanni Pontano die neapolitanische Renaissance erschlossen.

Tobias Roth: "Auch Neapel war eine Renaissance-Metropole"

Die hat man wirklich nicht auf dem Schirm.
Sie ist auch für Kenner exotisch. Doch Neapel war genauso eine Renaissance-Metropole. Dort hat aber eine ganz andere Philosophie als in Florenz geherrscht.

Tobias Roth (Jahrgang 1985) ist freier Autor, Lyriker und Übersetzer. Der Münchner wurde mit einer Studie zur Lyrik und Philosophie der italienischen Renaissance promoviert.
Tobias Roth (Jahrgang 1985) ist freier Autor, Lyriker und Übersetzer. Der Münchner wurde mit einer Studie zur Lyrik und Philosophie der italienischen Renaissance promoviert. © Axel Gundermann/YEARROUNDMUNICH

Inwiefern?
Die Florentiner sind diese feinsinnigen vergeistigten Platoniker, die auf den Flügeln der Imagination davonfliegen, während in Neapel viel mehr Lukrez und Aristoteles gelesen werden. Dort ist man auch viel politischer und moralischer orientiert. Es gibt ein großes Interesse am Heidnischen. Der Dichter und Gelehrte Michele Marullo kommt zum Beispiel so saftig und so antikisch daher, dass man nie auf den Gedanken käme, das hätte ein Christ geschrieben.

Für Lukrez etwa ist die Seele sterblich, auch das passt nicht so recht zum Christentum.
Das kann in der Renaissance aber alles nebeneinander stehen. Diese Offenheit fasziniert mich. Mit der Reformation ist das allerdings vorbei.

Egal, wo man Ihr mehr als 600 Seiten starkes Buch aufschlägt, ist die Sprache sehr sinnlich. Selbst bei den größten Scheußlichkeiten.
Der erwähnte Poliziano schafft es zum Beispiel, ein literarisch wirklich faszinierendes Gedicht über die Krätze zu schreiben. Das ist aber etwas anderes, als würde sich Charles Baudelaire für etwas Hässliches begeistern. In der Renaissance geht es nicht zuletzt um das Ausstellen von Fähigkeiten im Sinne von: Schau doch, wie viele hässliche lateinische Wörter ich draufhabe. Überall ist die Kraftmeierei dabei, egal, ob die Dichter sich in Latein oder Italienisch ausdrücken.

Tobias Roth über Beccadellis pornografischen Epigramme

Es wird ja auch in der Liebeslyrik dick aufgetragen.
Absolut! Man merkt das vor allem, wenn es um die Liebe und speziell die körperliche Liebe geht. Wir haben tatsächlich auf der einen Seite einen Engel wie Petrarcas Donna Laura mit einer ins Religiöse reichenden Verherrlichung und auf der anderen Seite etwas sehr Unmittelbares, Fleischliches. Ich bin immer wieder baff, was erlaubt war und wie ungeniert das ausgebreitet wurde. Mit riesigem Erfolg übrigens. Antonio Beccadelli war einer der Ersten, der auf Latein sehr detailgenaue, sehr derbe Poesie formuliert hat. Seine pornografischen Epigramme nehmen einen starken Bezug auf Horaz oder Martial, also auf die ganzen Schmuddeleien der Antike.

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Ist die Verbindung zur Antike eine Art Legitimation?
Das ist der Punkt. Beccadelli macht sogar einen richtigen Karrieresprung und wird ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung Minister in Neapel, weil dem König diese Ausdruckskraft ungemein gefällt. Pietro Aretino ist damit ja auch sehr erfolgreich, aber ich meine, dass diese Literatur nicht zum pornografischen Gebrauch geeignet war. Dazu ist sie zu grell und zu komisch. Interessanter wird es dann bei Giovanni Pontano, der als Erster einen Gedichtzyklus über eheliche Liebe schreibt. Und das ist mit das Leidenschaftlichste, das man lesen kann.

Roth: "Schönheit ist ein ganz entscheidender Motor für die Literatur"

Weil in der Ehe alles erlaubt ist?
Nicht unbedingt. Schon ein Buch später tauchen viele "puelle", also Mädchenfiguren auf. Das gesamte Korpus ist wirklich polyamourös - aber völlig ohne Scham. Dadurch entsteht eine ansteckende Freude an der Erotik. In der Renaissance gibt es die Ovidianische Tradition, bei der es wichtig ist, dass beide beim Sex Vergnügen haben. Natürlichkeit und Schönheit spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Die Schönheit wird in jedem zweiten Text verhandelt.
Die Schönheit ist ein ganz entscheidender Motor für die Literatur und überhaupt für die Kultur der Renaissance. Sie treibt die Humanisten wie Petrarca und Boccaccio an. Beide machen ihr Unbehagen an der Gegenwart auch am hässlichen Latein fest, das gesprochen und geschrieben werde. Damit meinen sie den Klerus und die Verwaltung. Im Vergleich zu Vergil und Cicero sei das unerträglich, deshalb wollen sie zurück zu dieser Schönheit und vertiefen das Studium antiker Texte. Das bleibt grundsätzlich der Anspruch an die Kunst der Renaissance.

Schon die Bildhauerfamilie der Pisani hat im 13. Jahrhundert antike Sarkophage studiert.
Und das wird in den folgenden Jahrhunderten zur Perfektion getrieben - nicht im Sinne einer Nachahmung, sondern in der Auseinandersetzung. Es geht aber genauso um Fülle und Abwechslung, um Überraschungen. Kunst soll auch unterhaltsam und gewitzt sein. All diese Ansprüche müssen auch in ein Gleichgewicht gebracht werden.

Tobias Roth: "Es muss viel gedankliche Alchimie getrieben werden"

Durch die Renaissance zieht sich genauso der Widerspruch. Die Rede ist vom Humanismus - dabei wird ständig Krieg geführt. Man preist die Wissenschaften und hält doch an alten Mythen oder am Aberglauben fest.
Man darf die Renaissance nicht mit der Aufklärung verwechseln. Der Kurs stimmt, aber es wird auch um 1500 noch viel gestaunt. Pico della Mirandola sagt, der Mensch ist ein großes Wunder. Und da setzt dann die Neugier an. Die Anatomie wird wieder aufgegriffen, man überwindet die Scheu vor dem Leichnam und schneidet ihn einfach auf. Aber da sind wir bereits in der damaligen Spitzenforschung. Die Renaissance ist nicht systematisch. Was sie so modern erscheinen lässt, ist diese ausgesprochene Skepsis. Schon bei Boccaccio heißt es, wir wissen nicht, was mit den Leuten im nächsten Leben sein wird.

Gehört das Mysterium dazu?
Unbedingt. Die aufklärerische Entzauberung der Welt wäre den Menschen in der Renaissance nie in den Sinn gekommen. Im Gegenteil, es muss viel gedankliche Alchimie getrieben werden. Und am Christentum wird nicht gekratzt. Nur ganz schräge Köpfe wie Leonardo oder Machiavelli dürften ihre Zweifel gehabt haben - wohlweislich, ohne sie aufzuschreiben.

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Tobias Roth: "500 Landsknechte in den Kampf schicken kann jeder"

In einigen Texten ist die Pest thematisiert, und so makaber!
Die große Pestwelle war ja auch so unendlich viel drastischer als das, was uns jetzt passiert. Der schwarze Tod begann im Frühsommer 1348 zu wüten, und im Herbst war alles vorbei - aber auch ein Drittel aller Europäer tot. Baldassare Bonaiuti schildert, dass Massengräber bis zum Grundwasser ausgehoben wurden. Dann gab es Schichten: Menschen, Erde, wieder Menschen, wieder Erde… als würde man eine Lasagne zubereiten, schreibt er.

Ist es nicht erstaunlich, wie schnell es dann wieder zu kulturellen Blüten kommt?
Jein. Die leeren Städte wurden zwar zunächst als bedrohlich empfunden, aber dann fangen die Leute an, komplett auszuflippen. Der Altersdurchschnitt war radikal gesunken, es gab intakte Häuser, die Geldsäcke haben quasi auf neue Besitzer gewartet. Für viele war das die Chance. Nicht von ungefähr kommt in dieser Zeit die doppelte Buchführung auf, das Rechnen mit der Null. Das schnelle Geldmachen wird auf neue Grundlagen gestellt, und das trägt zu einer immensen Dynamisierung der Gesellschaft bei.

Mit ungeahnten Aufstiegsmöglichkeiten.
Metzgersöhne werden buchstäblich zu Herzögen. Und genau in diesem Moment entsteht eine Kultur, die auf Bildung setzt. Man muss sich ja rechtfertigen, denn einen tollen Stammbaum gibt es nicht. Die Antike kommt da gerade recht. Die neuen Mächtigen haben schnell verstanden, dass sie einen Humanisten brauchen, der ihnen ein Versepos schreibt, mit dem sie glänzen können. 500 Landsknechte in den Kampf schicken kann jeder. Aber wenn man das entsprechend erzählt und die Lametta-Maschinerie des europäischen Fürstenlobs anwirft, ist das etwas ganz anderes.

So denkt Tobias Roth über den Dichter Petrarca 

Das hat auch die Künstler nach oben katapultiert.
Zeitweise waren in Florenz die wichtigen Staatsämter mit großen Humanisten und Literaten besetzt. Das ist doch ein erstaunlicher Kontrast zu heute. Es gibt aber auch Regenten, die richtig gute Dichter sind. Lorenzo de Medici zum Beispiel. Der schreibt nicht wie Friedrich der Große schlechte französische Epigramme, nein, bei Lorenzo stoßen wir auf einen sehr gediegenen, philosophisch durchgearbeiteten Petrarkismus auf der Höhe der Zeit. Und er kann sich in Satiren über Platon lustig machen. Immer mit einer gewissen Leichtigkeit, immer betont nonchalant. Die Renaissance-Kultur ist nie verbissen, nie einseitig.

Sind Sie sicher, dass das auch für den ernsten Petrarca gilt?
Natürlich öffnet dieser Dichter einen kaum fassbaren Kosmos. Man kann sich bei Petrarca über eine präzise theologische Ausarbeitung freuen, man kann Klassiker-Zitate entdecken und eine schonungslose Selbstbetrachtung erleben. Andererseits kann man seine Lyrik fast wie einen Popsong lesen, weil da so schön Liebeskummer beschrieben wird. Da ist einfach sehr viel Himmel und sehr viel Erde gleichzeitig.


Tobias Roth (Hrsg.): "Welt der Renaissance" (Galiani Berlin, 640 Seiten, 89 Euro); Vorstellung mit Musik (Isabelle Rejall, Alt, & Jacopo Sabina, Laute) im Literaturhaus, 14. Dezember, 20 Uhr, Streamticket für fünf Euro auf literaturhaus-muenchen.de

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