"Die Unschärfe der Welt" von Iris Wolff: Am Beispiel einer Familie

Iris Wolff ist mit ihrem Roman "Die Unschärfe der Welt" für den Bayerischen Buchpreis 2020 nominiert.
Katrin Kaiser |
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Die Schriftstellerin Iris Wolff.
Annette Hauschild/Ostkreuz Die Schriftstellerin Iris Wolff.

München - Die junge Deutsche Florentine und ihr Mann Hannes ziehen in den 1970er Jahren in ein kleines Dorf im rumänischen Banat, wo Hannes eine Stelle als evangelischer Pfarrer antritt. Sie machen in dieser Region, wo zahlreiche ethnische Gruppen zusammenleben, neue Bekanntschaften und schließen Freundschaften, bekommen ein Kind und öffnen das Pfarrhaus für Übernachtungsgäste aus der DDR.

So unspektakulär beginnt Iris Wolffs Roman "Die Unschärfe der Welt", der für den diesjährigen Bayerischen Buchpreis nominiert ist. Iris Wolff stammt selbst aus Siebenbürgen in Rumänien, lebt jedoch seit ihrer Kindheit in Deutschland. "Die Unschärfe der Welt" ist ihr vierter Roman.

"Die Unschärfe der Welt": Sieben Kapitel, sieben Protagonisten

Die Geschichte, die im ersten Kapitel dieses Buches so klein anfängt, weitet sich im Folgenden zu einer höchst poetisch verfassten Chronik zweier Familien. Jedes der sieben Kapitel ist einem anderen Protagonisten gewidmet und spielt zu einer anderen Zeit. Zu Beginn eines neuen Kapitels fällt es zunächst jedes Mal schwer, die Verbindung zum vorausgegangenen herzustellen. Wenn einige Seiten später bekannte Namen auftauchen, stellt sich beim Lesen eine unwillkürliche Freude ein - ganz so, als hätte man nach einigen Fehlversuchen endlich das fehlende Puzzleteil zu einem schlüssigen Bild gefunden.

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Iris Wolff: Ihr Roman zeichnet das Bild einer Welt im Umbruch

Auf der inhaltlichen Ebene zeichnet Wolffs Roman das Bild einer Welt im Umbruch: Während Hannes' Mutter Karline im Herzen Royalistin und Traditionalistin ist und zeitlebens von einer persönlichen Begegnung mit dem rumänischen König Michael in den 1940er Jahren schwärmt, erleben Florentine und Hannes, die in ihrem Denken individualistisch und liberal sind, in der Volksrepublik Rumänien unter Ceausescu immer wieder die staatliche Willkür des Sowjetregimes. Ihr Sohn Samuel wiederum flüchtet Ende der 1980er Jahre als junger Mann in einer spektakulären Aktion nach West-Deutschland und kehrt erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wieder zu seiner Familie zurück.

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Erzählfluss zeichnet sich durch fast märchenhafte Ruhe aus

Trotz der umfassenden Zeitspanne auf der Inhaltsebene findet Iris Wolff im Erzählen zu einer ganz wunderbaren Einheit. Die sieben Kapitel ihres Romans gestalten sich wie kunstvolle narrative Schleifen, die am Ende immer einen Kreis schließen und die Erzählung zu ihren Anfängen zurückführen.

Der Erzählfluss zeichnet sich durch eine fast märchenhafte Ruhe aus, egal welche Drastik dem Erzählten zuweilen innewohnt. Immer wieder finden menschliche Tragödien ganz klein und beiläufig Eingang in den Erzählduktus. So etwa die von Florentines Freundin, die beim Versuch, sich von einer ungewollten Schwangerschaft zu befreien, stirbt: "Im Krankenhaus weigerte man sich, sie zu behandeln. In der Volksrepublik Rumänien gab es keine Abtreibungen."

Banalisierung macht das Grauen umso grausamer

Die Wahrheit des Regimes wird immer wieder ganz nebenbei zu einer anderen, menschlicheren Wahrheit in Kontrast gesetzt. Samuels Freund Oz vermisst während seines Militärdienstes in einem Gefängnis eines Tages einen bestimmten Gefangenen und erhält von einem Soldaten die Auskunft: Der Gefangene "sei herzkrank gewesen - wenn Oz verstünde, was er meine. Oz verstand."

Die Banalisierung macht das Grauen auf der einen Seite umso grausamer. Andererseits führt genau diese Beiläufigkeit des Schreckens in Wolffs Geschichte dazu, dass die Figuren ihm stets mit einer starken inneren Haltung begegnen. Diese Haltung ermächtigt sie, unbeirrt ihren individuellen Weg zu gehen, ohne dabei vom Regime verschlungen zu werden.

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Immer wieder nimmt das Buch so Bezug auf die im Titel genannte "Unschärfe der Welt". Die Lebensrealität der Figuren erscheint in sehr starkem Maße als vom Menschen erschaffen und vom Menschen interpretiert, nie als etwas Eindeutiges, das a priori da gewesen wäre. Ein kleines großes Buch, das auf nur gut 200 Seiten ein kunstvoll konstruiertes Universum aus Politik, Geschichte, Philosophie und Zwischenmenschlichkeit entstehen lässt.


Iris Wolff: "Die Unschärfe der Welt" (Klett-Cotta, 216 Seiten, 20 Euro, als E-Book 15,99 Euro)

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