"Pig Business" von Rudolf Buntzel: Das Schweinesystem
Das allein von Eicheln gemästete und sich frei bewegende Ibérico-Schwein lebt bis zur Schlachtung im Paradies. Hunderte Millionen von Artgenossen dagegen sind Teil der globalen Schweineindustrie. Das "Pig Business" erklärt Rudolf Buntzel in seinem neuen, gleichnamigen Buch.
AZ: Herr Buntzel, in der "Odyssee" taucht der Schweinehirt Eumaios auf, und Homer liefert den ersten literarischen Bericht über eine große Schweinehaltung in der Weltliteratur. Eumaios betrieb zwölf Ställe mit je 50 Säuen und ihren Ferkeln. Wäre das heute wieder das Ideal?
RUDOLF BUNTZEL: Eine Ferkelerzeugung mit 600 Mutterschweinen ist selbst nach unseren heutigen Maßstäben in Deutschland ein veritabler Betrieb. Im Durchschnitt hält der Ferkelerzeuger in Westdeutschland 193 Muttersauen pro Betrieb, in den neuen Bundesländern 2.326. Die Statistik im Westen ist durch viele Nebenerwerbslandwirte verzerrt, die in der Regel nur wenige Muttertiere halten. Im Osten schlagen die ehemaligen LPG-Strukturen durch. Nur 10 Prozent aller Sauenhalter haben mehr als 500 Säue. Eumaios könnte sich also bei uns heute als familiärer, entwicklungsfähiger Vollerwerbsbetrieb behaupten. Allerdings hat er bestimmt mit einer Armee von Sklaven seinen Betrieb bearbeitet. Die Struktur bei der Schweinemast in Deutschland ist übrigens ähnlich.
Lokales Fleisch nicht immer so lokal
Selbst unser lokales Fleisch ist nicht so lokal, wie wir es gerne hätten: In Wirklichkeit kommt das Futter aus Brasilien, die Zuchtlinien vom Weltmarkt, die Schlachter aus Rumänien. Ist Regionalität auf dem Fleischmarkt nur eine Chimäre
Auch die meisten bäuerlichen Familienbetriebe erfüllen nicht den Anspruch einer rein lokalen Aufzucht oder Mast, weil ganz viele Vorprodukte vom Weltmarkt stammen. Allerdings gibt es eine hinlängliche Anzahl von Qualitätsfleischinitiativen, die explizit mit ihrem lokalen oder regionalen Bezug werben. Wenn diese Betriebe nach EU-Recht anerkannt sind unter dem Label "geschützte Ursprungsbescheinigung", dann müssen alle Produktionsschritte aus einem definierten Gebiet stammen, das Fleisch des Schwäbisch Hällischen Schweins beispielsweise muss allein aus dem Kreis Schwäbisch Hall stammen, inklusiv der meisten Betriebsmittel.
Was ist der Hauptgrund für die Entfremdung von Schwein und Mensch, nach einem relativ symbiotischen Zusammenleben über Jahrtausende?
Das Schwein als Nutztier des Menschen lebte ursprünglich - und heute auch noch überwiegend in asiatischen Ländern, Osteuropa, Karibik und Pazifik - zusammen mit ihren Haltern in einem Familienverband. Die Tiere sind mit der Landwirtschaft integriert in Kreislaufzusammenhängen, was Futterversorgung und Dungverwertung anbelangt. Die ökonomische Überlegenheit des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und die Nutzbarmachung der Massenproduktion hat die Kommerzialisierung der Schweinewirtschaft weltweit vorangetrieben. Von da an zählte nur noch die effiziente Fleischausbeute. Eine global arbeitsteilige und lukrative Wertschöpfungskette trat an die Stelle der Hausschlachtung und des Metzgergewerbes. Das Hausschwein überlebte bei uns nur noch in Nischen. Aber in Entwicklungsländern lebt die Hausschweinhaltung armutsbedingt bei vielen ländlichen Haushalten weiter.
"Früher haben wir alles vom Schwein gegessen"
Wie erklären Sie einem Laien das "fünfte Viertel des Schweines"?
Der moderne Schlachthof zerteilt den Körper des Schweins normalerweise in vier Schlachtteile, zwei Hinterpartien und zwei Vorderpartien. Der Handel mit Schweinevierteln ist marktüblich. Rund 66 Prozent des Lebendgewichts des Schweines machen diese Fleischpartien aus. Sie bestehen überwiegend aus Edelteilen. Aber all die Teile des Tieres, die heute nicht mehr auf dem Speisezettel des Wohlstandsbürgers stehen, sind bei uns kaum noch abzusetzen. Deshalb bekommt der Bauer für sie auch nur wenige Cent. Früher haben wir alles vom Schwein gegessen, auch die Gedärme, Ohren, Kopf und Beine. Die Konzerne der Schlachthöfe haben aber heute für diese Teile neue Märkte auf der Welt erschlossen und machen inzwischen mit den Schlachtnebenprodukten das eigentliche Geschäft, wenn sie diese Teile gewinnbringend nach Südostasien exportieren, weil man sie dort in der einheimischen Küche schätzt.
Schwein: Fünf Rassen dominieren
Beim globalen Schwein dominieren in den Großmasten von Brasilien bis China fünf Rassen.
Weltweit haben sich in der Schweinezüchtung fünf Rassen durchgesetzt, die miteinander gekreuzt werden: Duroc, Landschwein, Hampshire und Yorkshire als Muttertiere, und der belgische Pietrain als Eber. Diese Zuchtlinien sind soweit von Zuchtkonzernen genetisch verbessert, dass sie höchste Fleischerträge in der Wachstumsphase erbringen, maximale Anzahl von Ferkel erzeugen, Eigenschaften haben, die gut in das industrielle System der Haltung passen, und primär mageres Fleisch ansetzen.
Warum hat es dennoch Sinn, verstärkt auf alte Rassen zu setzten?
Tiere, die sich nicht den Bedingungen der modernen Massenproduktion unterwerfen müssen, haben ganz andere Eigenschaften, die für die Haltung in Dörfern, in einfachen Ställen, für die Fütterung mit Küchen- und Ernteresten viel geeigneter sind. Sie werden nicht nach einem halben Jahr geschlachtet, sondern leben zum Teil 3 Jahre, wachsen langsamer, sind aber robuster und widerstandsfähiger. Das Fleisch hat eine gute Konsistenz: kernige Haptik, zarten Biss und das Fett ist nicht so wabbelig und weich, sondern schmackhaft. Eine fachgerechte Reifung macht es zart, aromatisch und bekömmlich. Die Kunden zahlen gerne einen Aufpreis für solches Qualitätsfleisch.
Sollten Deutschland und die EU überhaupt noch versuchen, Schweinefleisch auf den Weltmarkt zu exportieren, oder ist das wegen höherer Standards bald ökonomisch ohnehin nicht mehr möglich in Konkurrenz zu Billiganbietern?
Es stimmt, die EU ist der größte Schweinefleischexporteur der Welt, mit 5,2 Millionen Tonnen 2021, und Spanien und Deutschland an der Spitze. Für die europäische Fleischwirtschaft sind diese Exporte sehr vorteilhaft, denn Europa kann mehr von den hier so sehr begehrten Edelteilen erzeugen, und die Nebenprodukte gewinnbringend exportieren. Doch es fragt sich, ob die "Überproduktion" für unsere Gesellschaft ökologisch tragbar ist. In vielen Gebieten Europas ist die Schweinedichte so hoch, dass die Fäkalien und der Urin nicht mehr ordnungsgemäß entsorgt werden können; deutlich überhöhte Nitratwerte im Grundwasser dieser Gebiete sind ein riesiges Problem. Die Quälerei der Tiere in den engen Ställen und auf den gesundheitsschädlichen Spaltenböden hat die Forderungen nach Tierwohl-Standards zu einem gesellschaftspolitischen Thema werden lassen. Allerdings teilen diese ethischen Empfindlichkeiten weder die Gesellschaften unserer Importländer, noch unsere Konkurrenten auf den Weltmärkten. Die zusätzlichen Kosten der Rücksichtnahme auf das Tierwohl birgt die Gefahr, dass sich die deutsche Schweinewirtschaft aus dem internationalen Wettbewerb verabschieden muss.
Supermarktketten bekennen Farbe
Hat Aldi als Deutschlands größter Frischfleischanbieter mit seiner überraschenden Ankündigung, auf Fleisch aus der untersten Stufe des Tierwohlstandards zu verzichten, mehr für das Tierwohl getan als Julia Klöckner in ihrer Amtszeit?
Absolut ja, das ist der Fall. Die Politik hat lange genug herumgeeiert und nur ein freiwilliges Label hervorgebracht. Die Supermarktketten, Aldi allen voraus, haben Farbe bekannt und schwenken mittelfristig auf höhere Tierwohlstandards ein.
Ist damit der Umbau der Tierhaltung, das Ende des Schweinesystems mit unzumutbarer Haltung in Europa eingeleitet?
Ob mit Aldis Vorpreschen wirklich eine Kehrtwende in der deutschen Schweinewirtschaft einkehrt, hängt wesentlich davon ab, ob die Landwirte auch für die Mehrkosten bezahlt werden, ohne dass die Fleischpreise für die Verbraucher unbezahlbar werden. Und ob es gelingt, im Widerspruch zu den Regeln des internationalen Freihandels dieses Marktsegment gegen Billigimporte abzuschirmen.
Welches Schwein könnte man ohne Gewissensbisse genießen, oder bleibt als Alternative nur der Fleischverzicht?
Keineswegs verbleibt als Antwort nur ein Schweinefleischverzicht. Es gilt immer noch der alte Slogan der Künast-Ära: Klasse statt Masse. Weniger Fleischverzehr kann mehr Genuss bedeuten, wenn man auf Qualitätsfleisch setzt und das auch richtig zubereitet.
Wie viele Schweine kann sich die Welt leisten, oder ist dieser Punkt schon überschritten?
Die riesigen Mengen Sojaimporte für das Borstenvieh sind das Hauptproblem des ökologischen Fußabdrucks, vor allem was die Belastung durch den Transportaufwand anbelangt, die Zerstörung der Wälder und Biodiversität in Lateinamerika und die Entsorgung der Ausscheidungen der Tiere bei uns. Aber da steht das Schwein dem Rind und Huhn in nichts nach. Was den Verbrauch von Wasser anbelangt, werden für 1 kg Schweinefleisch 6.000 Liter Wasser benötigt; bei Rindfleisch rund 50.000 Liter, doch bei Hühnerfleisch nur 3.500 Liter. Während der Heißhunger speziell Südostasiens nach Schweinefleisch weiter zunimmt, lässt der Verbrauch bei uns langsam nach, und sowohl in China, Vietnam als auch bei uns erlebt der Welthandel mit Schweinefleisch eine kleine Delle durch die Afrikanische Schweinepest. Aber von sich aus löst sich das Problem der überbordenden Anzahl von 480 Millionen Schweinen auf der Welt nicht. Wasserknappheit, Klimagasemissionen, Welternährungsbelange und die Grenzen von entwaldungsfreien Lieferketten hätten die Zuwächse bei der Schweinehaltung längst zum Stillstand bringen müssen.
"Das Schwein ist biologisch dem Menschen ähnlicher als jedes andere Tier"
Das Schwein könnte als Organspender noch bedeutsamer werden als nur als Nahrungslieferant.
Das Schwein ist biologisch dem Menschen ähnlicher als jedes andere Tier: Größe und Gewicht, Haut und innere Organe, Verdauungstrakt und Futterbedürfnisse. Schon lange wird Insulin vom Schwein für die Behandlung von Diabetes beim Menschen eingesetzt. Jetzt hat auch die erste Transplantation eines Schweineherzens erfolgreich stattgefunden.
Könnte das unsere Wertschätzung gegenüber dem Schwein wieder aufwerten?
Das Schwein erlebt als "Ersatzteillager menschlicher Organe" eine neue, wesentliche Bedeutung für den Menschen. Aber ob damit das Geschöpf "Schwein" eine neue Wertschätzung auch jenseits eines neuen Ausbeutungsmechanismus' erfährt, ist stark anzuzweifeln, denn der "Spender", das Schwein, muss ja für den Empfänger sein Leben lassen. Umfangmäßig wird die Nutzung des Schweins durch Xenotransplantation nur einen Bruchteil im Vergleich zur Nutzung als Fleischlieferant betragen. Eine neue Dimension in der Mensch-Schwein-Beziehung sehe ich hierdurch nicht.
Rudolf Buntzel: "Pig Business" (Oekom Verlag, 340 Seiten, 25 Euro)
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