Neues Buch über Neandertaler: Viel Muskeln - und viel Hirn
Die Vorstellung vom dumpfen, keuleschwingenden Kraftpaket sitzt noch in vielen Köpfen. Doch seit 2010 durch Forscher um Svante Pääbo bekannt wurde, dass einige Gene der Neandertaler in uns fortleben, ist man vorsichtiger. Es geht immerhin um ein bis vier Prozent unseres Erbguts, und ständig gibt es neue Entdeckungen. Aus gutem Grund wurde der schwedische Paläogenetiker kürzlich mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Für Rebecca Wragg Sykes ist das nicht nur die Anerkennung einer großartigen Forschungsleistung, sondern genauso der Triumph ihrer "Lieblinge". Kaum jemand schreibt so leidenschaftlich über die Neandertaler wie die Archäologin aus Wales. Ihr aktuelles Buch "Kindred" ist inzwischen unter dem Titel "Der verkannte Mensch" auf Deutsch erschienen.

Mrs. Wragg Sykes, vom Cover Ihres Buchs lächelt ein sympathisches Neandertaler-Kind. Man ist sofort gerührt.
REBECCA WRAGG SYKES: Durch die Forschung sind uns die Neandertaler doch auch sehr nahe gerückt, sie waren weitaus höher entwickelt, als man früher annahm.
In Leipzig, wo Nobelpreisträger Svante Pääbo lehrt, wurde das Gehirnwachstum der Neandertaler untersucht. Das sei schneller verlaufen als beim Homo sapiens, dadurch würde es aber auch zu mehr Chromosomenfehlern kommen. Passt das in Ihr Bild?
Durchaus. Wir sind dabei, vor allem die Unterschiede zwischen dem Körper der Neandertaler und dem unseren zu erforschen. Dabei ist gerade das Wachstum interessant, auch im Zusammenhang mit der Frage, ob die Neandertaler eine so ungewöhnlich lange Kindheit hatten wie wir. Diese neuen Untersuchungen zur Gehirnentwicklung deuten nicht nur auf ein unterschiedliches Wachstum, sondern auch auf den Grad der Verbindungen innerhalb des Gehirns hin. Auf der anderen Seite zeigen uns die archäologischen Funde aber auch, dass die Neandertaler die meiste Zeit ein Leben geführt haben dürften, das dem des Homo sapiens ziemlich ähnlich war.
Im Vergleich zum Homo sapiens war der Körperbau der Neandertaler eher massig und gedrungen. Worauf lässt sich das dann zurückführen?
Die Neandertaler wurden lange mit Eiszeiten und extremer Kälte in Verbindung gebracht. Sie lebten aber auch in Phasen, in denen es genauso warm oder sogar wärmer war als heute und zudem in ganz unterschiedlichen Umgebungen. Wir können ihren kräftigen Körperbau also nicht mehr als Anpassung an die Kälte erklären, sondern eher als Folge eines intensiven, kräftezehrenden Lebens. Und das hat nun mal große Mengen an Kalorien und Sauerstoff für den Stoffwechsel erfordert. Weit mehr als wir das von Leistungssportlern oder körperlich hart arbeitenden Menschen kennen.
Heute ist immer wieder von der Steinzeit-Diät die Rede. Hat sie überhaupt etwas mit der Ernährung der Neandertaler zu tun?
Die "Paläodiät" und andere modische Diäten, die den massiven Fleischkonsum fördern, zeigen ein unvollkommenes Bild. Unabhängig von Klima und Umwelt haben die Neandertaler mit großer Wahrscheinlichkeit viele Tiere gegessen, allerdings eher Mark, Fett und Eingeweide als mageres Fleisch. Für eine gute Ernährung brauchten sie aber auch Pflanzen, das gilt besonders für schwangere Frauen. Wir können inzwischen vieles nachweisen wie zum Beispiel Wildgetreide, Nüsse, Früchte, Hülsenfrüchte und Wurzeln. Das wurde in winzigen Überresten an Feuerstellen gefunden oder sogar als konservierte Stärke im Zahnstein zwischen ihren Zähnen. Das ist das Zeug, das Ihr Zahnarzt entfernt. Diese Erkenntnis wird außerdem durch neue Methoden der Isotopenanalyse unterstützt.
Kochgewohnheiten der Neandertaler
Dann wurde das Fleisch eher gekocht?
An einigen Orten gibt es Hinweise darauf, dass die Neandertaler zum Kochen Feuer gemacht haben. Das legen nicht nur die Verbrennungsmuster auf Knochen nahe, sondern auch die Sediment-Analysen im Bereich solcher Feuerstellen. Sie deuten auf tropfendes Tierfett. Aber so, wie wir heute manchmal rohes Fleisch oder rohen Fisch essen, kann es durchaus sein, dass auch die Neandertaler nicht immer alles gekocht haben. Das gleiche gilt für pflanzliche Lebensmittel.
Um große Mengen an Fleisch zu verarbeiten, braucht man gutes Werkzeug.
Die Neandertaler waren ausgezeichnete Steinhandwerker und hatten ein Gespür für die Qualität verschiedener Gesteinsarten. Sie beherrschten eine Menge ganz unterschiedlicher Methoden der Steinbearbeitung, um die jeweils passenden Geräte herzustellen. Man kann dann sogar zwischen "Wegwerf-Werkzeugen" für den einmaligen oder kurzen Gebrauch und "Langzeit"-Werkzeugen unterscheiden, die immer wieder nachgeschliffen wurden. Aber auch andere Materialien wie Knochen und Holz sind zum Einsatz gekommen. Die Neandertaler waren dabei gute Schreiner, egal ob sie nun Speere oder Grabstöcke angefertigt haben.
Leben in kleinen Gemeinschaften
Welche Rolle hat die Gemeinschaft gespielt?
Das ganze Leben der Neandertaler hat sich um die sozialen Beziehungen innerhalb ihrer Gruppen gedreht. Wie bei vielen Jägern und Sammlern waren das im Alltag eher kleine Teams. Einige Fundstellen deuten darauf hin, dass sie sich manchmal noch weiter aufgeteilt haben, um getrennt durch die Landschaft zu ziehen. Außerdem zeigen Fußabdrücke, dass manchmal ganze Gruppen nebeneinander auf Nahrungssuche waren, aber auch Kinder und Jugendliche "hingen zusammen ab". Weniger klar ist, wie oft sie mit anderen Gruppen zusammentrafen oder wie sie Kontakte knüpften. Die Weitergabe von Steinwerkzeugen könnte auf die Begegnung mit anderen hinweisen, es ist aber genauso gut möglich, dass solche Gegenstände über weite Strecken mitgeführt wurden. Aus der Genetik wissen wir allerdings, dass die Neandertaler wohl keine so großen Netzwerke hatten wie die frühen Homo sapiens.

Wie haben sich die Neandertaler überhaupt ausgetauscht? Gab es eine Sprache?
Das weiche Gewebe ihres Rachens muss unserem so ähnlich gewesen sein, dass sie in etwa die gleichen Laute äußern konnten. Neuere Anatomiestudien ihres Gehörgangs deuten ebenfalls darauf hin, dass es größtenteils auf die gleichen Tonfrequenzen abgestimmt war wie unser Gehör und damit auf Sprache. Aber auch die Qualität ihrer Kommunikation ist wichtig: Worüber haben sie gesprochen? Aus der Genetik haben wir Hinweise, dass ihre Sprache nicht so ausgebildet war wie unsere. Andererseits sehen wir ihre hoch entwickelte Kultur und ihr Handwerk, das offensichtlich Zusammenarbeit erfordert hat. Und da bedarf es einer Art komplexer Sprache. Auch die Tatsache, dass "hybride" Kinder in beiden Populationen überleben konnten, weist auf eine gemeinsame Kommunikationsfähigkeit.
Homo sapiens und Neandertaler: gemeinsame Sprache, gemeinsame Kinder
Sie meinen, Kinder von Neandertalern und Homo sapiens?
Genau. Das ist in den letzten zwölf Jahren sehr intensiv untersucht worden. Wir wissen jetzt, dass es viele Phasen der Vermischung gab, die zum Teil vor 200.000 Jahren begannen. Was davon heute in unserer DNA nachweisbar ist, muss vor etwa 55.000 Jahren in die Homo sapiens-Population eingegangen sein. Aber das war nicht das letzte Mal. Es gab noch kurz vor dem Aussterben der Neandertaler Kontakte und in irgendeiner Form Sex sowie "hybride" Babys.
Wie darf man sich dieses Aufeinandertreffen vorstellen?
Das ist für mich eine faszinierende Frage, und vielleicht war diese Paarung nicht unbedingt nur aggressiv, sondern manchmal auch von Neugier und Zuneigung geprägt. Außerdem frage ich mich, ob es neben den Genen noch einen kulturellen Austausch gab. Wussten Menschen mit Neandertaler-Abstammung davon, wurde darüber gesprochen?
Die Neandertaler verschwanden vor 40.000 Jahren. Was ist schief gelaufen?
Das ist ein sehr umstrittener Punkt. Und mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es nicht nur einen Grund. Vor 50- bis 40.000 Jahren wurde es zum Beispiel kälter, allerdings nicht sehr viel mehr, als es die Neandertaler gewohnt waren. Diese Abkühlung wirkte sich aber auf die Umwelt, auf Flora und Fauna aus, die sich vielleicht anders entwickelt haben. Dazu kommt, dass sich der Homo sapiens schon sehr lange in Eurasien ausgebreitet hat, das ging vor 180.000 Jahren los, in Australien vor 60.000 Jahren, während Europa offenbar bis zu deren Aussterben das Reich der Neandertaler war.
Unser Immunsystem kommt von den haarigen Vorfahren
Sind diese paar Prozent Neandertaler, die wir in uns tragen, eigentlich ein Vorteil?
Die Auswirkungen dürften bei jedem unterschiedlich sein. Man darf jedoch davon ausgehen, dass uns ein Teil der Gene aus der Begegnung von Neandertalern und Homo sapiens geholfen hat. Andernfalls wäre dieser Teil nicht erhalten geblieben. Ein Beispiel ist die Immunität: Da muss es einen Einfluss der Neandertaler gegeben haben. Etwa, als der frühe Homo sapiens, der sich von Afrika ausbreitete, in Eurasien auf unbekannte Bakterien und Viren traf.
Welche Krankheiten haben die Neandertaler geplagt?
Wie alle Jäger und Sammler hatten Sie mit entsprechenden Beschwerden und Verletzungen zu kämpfen. Das ist einfach ein hartes Leben. Auch die Zahl der Kinder, die vor dem fünften Lebensjahr sterben, ist in solchen Populationen sehr hoch. In dieser Hinsicht sind die Neandertaler keine Ausnahme. Manche hatten besonders viel Pech, das legen die Skelettfunde nahe, andere sind wiederum ohne Knochenbrüche oder eindeutige Krankheiten durchgekommen. Und es ist auch nicht so, dass alle jung gestorben sind. Einige wurden über 40 Jahre alt, da stellen sich eben bestimmte Beschwerden ein, und man braucht Unterstützung durch die anderen. Am Feuer saßen sicher weise Älteste, Großeltern und sogar Urgroßeltern.
Totenkult und ein Sinn für Kunst
Was weiß man über den Umgang mit dem Tod? Gab es in einzelnen Gemeinschaften eine Art Begräbniskultur?
Es sind zumindest verschiedene Arten von Bestattungen nachgewiesen, das heißt, man hat sich mit den Toten auseinandergesetzt, von der Beisetzung bis zum Zerlegen von Leichen und sogar deren Verzehr. Eine ausführliche Beschäftigung mit dem Körper macht durchaus Sinn und ist auch naheliegend, wenn man die Neandertaler und uns als Primaten betrachtet. Wir sehen das genauso bei Schimpansen und Bonobos, die auf diese Weise Traumata verarbeiten. Ein Leichnam weckt große Emotionen, deshalb wird er intensiver behandelt als zum Beispiel eine Jagdbeute. Das ist eine intuitive Form der Trauerarbeit.
Wir kennen ganz erstaunliche Höhlenmalerei, der Homo sapiens gilt als erster Künstler. Und die Neandertaler?
Da gibt es einige Beweise, das reicht von der Verwendung von Pigmenten auf ungewöhnlichen Objekten bis hin zu Gravuren. Auch die Anordnung abgebrochener Stalagmiten in der Höhle von Bruniquel im Südwesten Frankreichs deutet auf ein ästhetisches Interesse am Material jenseits des Alltäglichen. Dieser Ort wurde von denkenden und fühlenden Wesen geschaffen! Emotionen sind der Motor fast aller unserer Handlungen, das war bei den Neandertalern sicher nicht anders. Und vielleicht hatten sie sogar einen Sinn für die Transzendenz.
Rebecca Wragg Sykes: "Der verkannte Mensch. Ein neuer Blick auf Leben, Liebe und Kunst der Neandertaler" (Goldmann, 512 Seiten, 24 Euro)
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