Neues Buch: Ex-Bundespräsident Joachim Gauck spricht Klartext in "Erschütterungen"

Die Demokratie ist in Gefahr, stellt Joachim Gauck fest in seinem Buch "Erschütterungen". Er lässt kein Reizthema aus: von weißen Männern bis zu Putin-Verstehern.
Martina Scheffler
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Ex-Bundespräsident Joachim Gauck.
Ex-Bundespräsident Joachim Gauck. © dpa

Berlin - Er traut sich was, der linke liberale Konservative. So hat sich Joachim Gauck, der elfte deutsche Bundespräsident, einmal bezeichnet. Diese Haltung spricht auch aus seinem aktuellen Buch "Erschütterungen".

Das Buch teilt sich in zwei Abschnitte: Zum einen geht es um eines der derzeit beherrschenden Themen, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Zum anderen widmet sich Gauck der schwierigen Frage danach, was unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren auseinandergetrieben und die Demokratie erschüttert hat. Der inzwischen 83-Jährige scheut dabei vor keinem Tabu zurück und benennt klar seine Haltung, sei es zu Einwanderung, alten weißen Männern oder Querdenkern.

Vergangenheit und Gegenwart: Joachim Gauck weist auf Parallelen hin

Eröffnet wird Gaucks Liebeserklärung an die Demokratie mit einem historischen Exkurs zur deutschen Haltung zu Russland seit den Tagen der Brandtschen Entspannungspolitik. Dabei kommen der SPD-Kanzler wie auch sein Nachfolger Helmut Schmidt und weitere SPD-Größen der 70er und 80er Jahre schlecht weg. Gauck weist auf Parallelen zur jüngsten Vergangenheit hin: In den frühen 80ern fand die polnische Gewerkschaft Solidarnosc mit ihrem Kampf für Bürgerrechte und Demokratie keine Unterstützung bei deutschen Politikern, denen alles zu schnell ging.

Diese hätten etwa in der DDR, so schildert es Gauck, durch eine Annäherung an die Elite einen Wandel bewirken, also durch eine Bestärkung des Systems letztlich dessen Schwächung erreichen wollen.

Gaucks Buch "Erschütterungen".
Gaucks Buch "Erschütterungen". © Siedler Verlag

Auf Polen bezogen sei ihnen die Sicherung des Friedens über alles gegangen, doch: "Wie lässt sich rechtfertigen, dass andere in Unfreiheit verharren müssen, damit wir weiter in Frieden leben können?", fragt Gauck.

Ostdeutschland: Joachim Gauck spricht von "Stockholm Syndrom"

Immerhin hätten die Entspannungspolitiker neben Annäherung die Abschreckung nie vernachlässigt und in Rüstung investiert. "Wer Frieden will, muss auch Krieg verhindern können", konstatiert Gauck. Auch nach dem Mauerfall war, wie Gauck es beschreibt, das Verhältnis zu Russland von Nachgiebigkeit und Hoffnung auf eine Besserung der Beziehungen geprägt, selbst, als dies schon Naivität bedeutete. Gründe für die "Realitätsblindheit" sieht Gauck etwa in "Ignoranz in Bezug auf die Geschichte der Ukraine".

Auch Zweiter Weltkrieg und Wiedervereinigung spielten eine Rolle beim Verhalten der Deutschen: Doch dürften "Dankbarkeit und Schuldgefühle nicht dazu führen, die Augen vor der dunklen Seite der Realität zu verschließen". In Ostdeutschland sieht Gauck, selbst Rostocker, das Stockholm-Syndrom am Wirken, die Sympathie für (einstige) Unterdrücker.

Ex-Bundespräsident Gauck sieht autoritäre Veranlagungen in Gesellschaften 

Auch bewertet Gauck angesichts des Ukraine-Krieges das deutsche "Mentalitätsamalgam" als hinderlich für eine selbstbewusste Politik: "Deutschland hat, da es gleich für zwei imperiale Kriege verantwortlich zeichnet, ein fortdauerndes Problem mit einem positiven Bezug zur eigenen Nation, zur nationalen Gemeinschaft, zum Patriotismus", schreibt Gauck und stellt die Frage nach der Verteidigungsbereitschaft der Deutschen. Heikler als der erste sind die Fragen im zweiten Teil von "Erschütterungen".

Der Altbundespräsident ist bemüht, nicht missverstanden zu werden, geht es doch um Themen, bei denen Missverständnisse, gewollt oder ungewollt, an der Tagesordnung sind. Der 83-Jährige spricht über eine autoritäre Veranlagung in Teilen der Gesellschaft – weltweit. Man müsse sich darauf einstellen, dass etwa ein Drittel der Menschen ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit, Gleichheit und Einheit habe. Diese Menschen dürfe man "nicht pauschal vorschnell als ,Nazis' oder rechtsradikal verurteilen", so Gauck, sondern müsse ihre Prägung in Politikentscheidungen miteinbeziehen.

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Neues Buch "Erschütterungen": Joachim Gauck setzt Hoffnung in Bürger

Die Rassismusdebatte fasst Gauck unter "Critical Race Theory" zusammen. In manchen Tendenzen des Antirassismus in den USA erblickt er "Züge einer rächenden Religion", auch sieht er die Gefahr, dass Antisemitismus "unter die Kategorie des Rassismus subsumiert" und Israel als "weiße rassistische Macht" gesehen werde. Gauck spricht sich für den Einsatz für universelle Menschenrechte aus, denn wer nur Solidarität mit nicht weißen Menschen pflege, stelle "ethnische oder 'rassische' Zugehörigkeit über die allgemeingültigen Menschenrechte".

Hoffnung hat Gauck trotzdem, und er setzt sie in die Bürger. Als er 2012 nach dem peinlich gescheiterten Christian Wulff das höchste Staatsamt antrat, war Gauck geradezu ersehnt worden. Mit klaren Worten hat er sich danach nicht nur Freunde gemacht. Auch mit "Erschütterungen" wird das so sein – aber über all diese Themen diskutieren sollten wir, die Bürger.


Joachim Gauck, Helga Hirsch: "Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht", Siedler Verlag, 24 Euro, 240 Seiten

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