Neuer Roman "Wut": Ein ruhig erzählter, wahrer Hammer
Frank ist 12 oder 13, als seiner Mutter mal wieder die Sicherungen durchbrennen. Er verbarrikadiert die Tür des Kinderzimmers mit Tisch und Stühlen, versteckt sich unterm Bett. Doch seine Mutter tritt die Tür auf, schlägt mit einem Besen nach ihm, schreit: "Komm raus, Drecksau, verkriech dich nicht, du Stück Scheiße."
Und als er nachgibt, reißt sie seinen Kopf hin und her, nimmt ihm die Brille ab, schlägt immer wieder zu. Als sie mit Schreien und Spucken fertig ist, schlägt sie weiter. Harald Martenstein erzählt von Franks Erinnerungen in seinem neuen, eindrucksvollen Roman "Wut".
Harald Martenstein zeigt eine neue Seite
Der in Berlin lebende Autor ist für seine journalistischen Arbeiten mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden und hat etliche Bücher geschrieben, wobei er als unterhaltsamer Erzähler gilt.
Mit "Wut" ist ihm etwas ganz anderes, Großes gelungen: ein Roman zu einem bitterernsten Thema, eine harte Geschichte, bei der die Gefahr groß ist, den Ton nicht zu treffen, in Vorwürfe abzugleiten oder in Pathos. Martenstein (67) passiert nichts davon. Auf bewundernswerte Weise gelingt es ihm, Franks Geschichte ohne Wut zu erzählen, obwohl es genau darum geht: um die Wut der Mutter und um die Wut darauf, die der Sohn nie los wird.
Es ist ein autobiografisch gefärbter Roman, aber eben ein Roman, keine Biographie, wie Martenstein betont: "Ich arbeite, wie jeder Romanautor, im Steinbruch meiner Erinnerungen, eigne mir dieses an, verwerfe jenes, erfinde dazu und vergesse."
"Wenn es vorbei war, ist sie immer zufrieden und sanft gewesen, wohlig erschöpft", lässt Martenstein den Ich-Erzähler Frank berichten. "Manchmal hasste ich sie. Nachts, im Bett, dachte ich mir Todesarten für sie aus, grausame Todesarten."
Wenn Wut eine Konstante des Lebens ist
Maria, die Mutter, gibt Frank die Schuld, dass die große Liebe ihres Lebens sie verlassen hat. Wut spürte sie schon lange davor, Wut ist eine Konstante ihres Lebens. Erst landet sie im Heim, dann bei einer Pflegefamilie, später bei ihrer Tante, die ihr Geld mit einem Bordell verdient.
Und dann auf der Klosterschule, wo Maria die Lehrerinnen anschreit und kurz vor dem Abitur von der Schule fliegt. Dass sie bald danach heiratet und ein Kind, Frank, bekommt, macht es nicht besser. Sie fühlt sich gefangen, die Beziehung zu ihrem Mann scheitert, die zu ihrem Sohn auch.
Gewaltszenen neben einfühlsamen Schilderungen
Martenstein erzählt diese Geschichte lakonisch - das macht den Roman noch besser. Trotz vieler Gewaltszenen gibt es auch sehr einfühlsame Schilderungen, etwa, wenn Maria als alte, demente Frau ins Pflegeheim kommt und ihren Sohn nicht mehr erkennt.
Am Ende läuft Frank durch die Stadt seiner Kindheit und geht in das italienische Restaurant, in dem er mit seinen Eltern einmal gewesen ist. Auf dem Rückweg haben sie seine Hände gefasst, ein einziges Mal. Für Frank ist das eine überwältigende Erinnerung - der maximale Kontrast zur Wut, die er erlebt hat.
Harald Martenstein: "Wut", Ullstein , 268 Seiten, 22 Euro