Diana Kinnert, die Ministerin der Einsamkeit
Die Zahlen sind bestürzend: 14 Millionen Menschen bezeichnen sich in Deutschland als einsam. Dass dies nicht nur ein persönliches Problem, sondern eine große gesellschaftliche Aufgabe ist, beschreibt Diana Kinnert in ihrem aktuellen Buch "Die neue Einsamkeit".
AZ: Frau Kinnert, was ist der Unterschied zwischen allein und einsam?
DIANA KINNERT: Alleinsein kann mit innerer Einkehr assoziiert werden, einer Kontemplation. Das ist ein selbstgewählter Zustand, der wieder verändert werden kann. Einsamkeit hingegen ist ein defizitärer Druck: Ich habe einen Wunsch nach Verbindlichkeit, nach Intimität, nach sozialem Austausch, aber meine Lebenssituation wird dem nicht gerecht. Ich bin unverschuldet in einem permanenten Zustand von Defizit und ich habe auch kaum Aussicht darauf, dass sich dies ändert.
Dass Einsamkeit alte Menschen betrifft, ist bekannt. Aber auch die total vernetzten Jungen sind oft einsam.
Darin besteht das faszinierende Paradox. Ich komme eigentlich aus der klassischen Einsamkeitsarbeit mit alten Menschen. Die sind häufig alleinstehend, nicht mehr sehr mobil, haben keine Beschäftigung mehr, keinen Kollegenkontakt. Und die Kinder und Enkel wohnen weit entfernt. Das sind die klassischen Attribute von Einsamkeit im Alter.
Dagegen kann man ja etwas tun.
Natürlich, es gibt Konzepte wie Mehrgenerationenhäuser, Nachbarschaftsgenossenschaften, ehrenamtliche Hilfe. Das Erstaunliche in der Forschung aber ist die hohe Anfälligkeit in der Gruppe der 20- bis 40-Jährigen, weil die das alles schon leben. Die sind vernetzt und erreichbar, haben kulturelle und soziale Angebote vor der Tür und sind dennoch einsam. Diesem Rätsel wollte ich nachgehen und das ist der Ursprung zu diesem Buch. Den demografischen Wandel, die zunehmende Digitalität und den steigenden Druck auf die junge Generation gab es natürlich schon vor Corona. Aber das Diktat der Kontaktbeschränkung, die angeordnete Isolation haben den Trend verschärft. Durch Corona gibt es aber eine ganz andere Offenheit und Sensibilität für die künftige Berücksichtigung von psychosozialen Faktoren.
Die Einsamkeit besteht bei den jungen Menschen oft nicht in mangelnder Verbindung mit anderen, sondern in der Qualität dieser Verbindung.
Diese Menschen haben das Gefühl, dass sie mit vielen anderen in irgendeiner Art in Beziehung stehen, aber es bleibt flüchtig, beliebig, oberflächlich, jeder kann jederzeit ersetzt werden. Wonach sie sich eigentlich sehnen, ist Verbindlichkeit und eine emotionale Offenheit. Die jungen Menschen sagen, dass sie Beziehungen eher konsumieren. Meine Analyse ist, dass diese Unfähigkeit zur Intimität etwas mit unseren ökonomischen Bedingungen zu tun hat.
Facebook oder Tinder haben ja keinen Masterplan zur Zerstörung von Beziehungen, oder?
Nein, das sind sehr subtile und perfide Begleiterscheinungen. Ich habe schon früh das Buch "Der flexible Mensch" des Soziologen Richard Sennett gelesen, darin beschreibt er eine neue Ausprägung unseres Kapitalismus, denn die Linearität im Industriezeitalter - langfristige Arbeitsverträge, Beförderungen, Sicherheiten - schwindet. Alle Gründer, die ich kenne, haben gar nicht mehr die Vorstellung des ehrbaren Kaufmanns, der über Generationen einen Familienbetrieb aufbaut oder weiterführt. Die suchen schnell einen Exit. Alle meine Freunde sind in befristeten Jobs, arbeiten meist nur projektweise, keiner ist in Betriebsräten. Die neue Flexibilität und auch Mobilität, die von meiner Generation gefordert wird, prägt unser Erwerbsleben sehr. Und am Ende des Tages - und das ist meine Analyse - überträgt sich dies auf unsere Kultur und unser Alltags- und Sozialleben.
Sie stammen wie Friedrich Engels aus Wuppertal und schreiben in seiner Tradition: "Es braucht einen neuen Arbeiteraufstand."
Sie müssen dann aber auch die Sätze davor und danach zitieren: Nämlich, dass ich noch immer Christdemokratin bin und auch nicht daran glaube, dass wir die Marktwirtschaft abschaffen müssen. Ich glaube aber schon, dass die Soziale Marktwirtschaft nach Ludwig Erhard nur mit einer fairen Arbeitnehmervertretung funktioniert hat. Und mit einer Tarifautonomie, die verbindlich und flächendeckend war.
Die Selbstausbeutung findet vor allem in der jungen Generation statt?
Wenn man wirklich analysiert, wie die Lohnsteigerungen sind und wann man sich Eigentum leisten kann, dann geht es der jungen Generation schlecht. Das ist längst nicht allen bewusst. Weil wir uns freuen, dass wir in so kleinen Projekten und Start-ups arbeiten, ist die Selbstausbeutung so groß. Der Chef duzt dich und stellt dir einen Kicker hin und ein bisschen Obst in der Mittagspause, das kaschiert die ökonomische Abhängigkeit. Wenn ich mit Gleichaltrigen spreche, wissen die oft gar nicht, dass zwei Generationen vor ihnen Menschen für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße gegangen sind. Das Perfide an der Art der Vereinzelung ist, dass Menschen sich nicht als Masse verstehen. Jeder hat in diesem Individualismus das Gefühl, dass er dankbar sein müsse für seine eigene Perspektive und er fühlt sich dann auch nicht solidarisch mit anderen. Große Tech-Unternehmer haben ein Interesse daran, Solidarität zu zerschlagen. Daher kommt vielleicht auch diese verweichlichte Duz-Kultur in der digitalen Wirtschaft.
Was fordern Sie?
Wir brauchen eine neue Art von Betriebsrat, eine neue Form der Teilhabe und Mithaftung für Arbeitnehmer, aber auch Mitverantwortung der Arbeitgeber. Wir müssen die soziale Marktwirtschaft im digitalen Zeitalter neu gestalten.
Einsamkeit sei doppelt so gefährlich wie Fettleibigkeit, oder so gefährlich wie 15 Zigaretten täglich, heißt es in Ihrem Buch. Kann man das so präzise benennen?
Das ist spitz formuliert, aber es gibt große Meta-Studien, die auf Basis von 1500 anderen Studien gemacht wurden. Diese ermittelten eine erhöhte, verfrühte Sterbewahrscheinlichkeit um 25 Prozent. Jeder, der sich dauerhaft einsam fühlt, ist ernsthaft gesundheitlich gefährdet. Deswegen hat das Thema in England unter der konservativen Regierung von Theresa May auch so rasant Fahrt aufgenommen. Der Druckpunkt war für die Konservativen natürlich nicht dieses sentimentale, kollektive Gefühl, sondern ganz klar die Milliarden von Kosten im Gesundheitssystem, die durch Einsamkeit entstehen.
Die Einführung des Einsamkeitsministeriums in England wurde anfangs auch verspottet als Monty Pythons "Ministry of Silly Walks". Was genau macht denn ein Einsamkeitsministerium?
Es gibt einen runden Tisch, wo Wohlfahrtsverbände von ihrer Arbeit berichten. Es gibt höhere Budgets für die Forschung über psychosoziale Zusammenhänge und gesundheitliche Konsequenzen von Einsamkeit. Es geht viel um interdisziplinäre und Politikfelder übergreifende Projekte, die jetzt eine konkrete Zuständigkeit haben, wenn es beispielsweise darum geht, WLAN in die Pflegeheime zu bekommen. Die Briten haben aber auch beschlossen, dass jeder Hausarzt bis 2023 eine Fortbildung zum Thema Einsamkeit gemacht haben muss. Denn man vermutet, dass Millionen Menschen auf Antidepressiva durch die Gegend laufen, obwohl die eigentlich nur sozialen Austausch bräuchten. Es gibt auch ein Projekt mit der britischen Post, dass Briefträger bei Alleinstehenden regelmäßig klingeln und nachschauen. Und der Einsamkeitsindex bewirkt, dass nun bei ganz großen Regierungsprogrammen überprüft wird, ob sie eine Auswirkung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben, so bei Bauprojekten in der Quartierspolitik.
Das klingt vernünftig. Wie kämpfen Sie für dieses Thema bei uns?
Deutschland ist wie England stark von der Industrialisierung geprägt. Und der industrialisierte Gesundheitsbegriff ist noch sehr physisch. Zu den Nebenerscheinungen im hochmodernen Beschleunigungs- und Informationszeitalter gehört, dass die mentalen Belastungen steigen. Man erkennt das an den Suizidzahlen, den Depressionsraten - die Psychotherapieangebote sind alle ausgeschöpft! Wir brauchen deshalb einen ganzheitlichen Gesundheitsbegriff. Ich sitze bei der CDU in der Bundeskommission gesellschaftlicher Zusammenhalt und kämpfe dafür, dass wir eine nationale Strategie und einen Einsamkeitsbeauftragten bekommen.
Sie schreiben auch über die politische Dimension der Einsamkeit, was es nämlich bedeutet, wenn man sich ausgegrenzt fühlt.
Wenn ich mich nicht als ein Teil des politischen Gemeinwesens empfinde, wenn ich mich also nicht verantwortlich und haftbar fühle, dann bin ich auch nicht länger daran interessiert, konstruktiv mitzumachen. Menschen, die in infrastrukturell schwächeren Regionen wohnen, wo die Kirche ebenso geschlossen ist wie die Kneipe, kein Postamt mehr existiert und kein Bäcker, wo es also gar keine Struktur mehr für eine Gemeinschaft gibt, da finden wir manchmal auch die Hochburgen der Pegida. Demokratie kann nur funktionieren, wenn sich Menschen als zugehörig empfinden. Wenn man das vernachlässigt, indem man soziale Räume kaputt macht, könnte das der Nährboden für politische Radikalität sein.
Öffentliche Begegnungsstätten sind auch in Städten umkämpft.
Die Architektur der Einsamkeit ist auch ein Thema in meinem Buch. Wir müssen mehr Begegnungsstätten schaffen, unüberquerbare Straßen gehören sicherlich nicht dazu.
Wir haben aber das Problem in Berlin wie in München, dass schnell ideologisch um jeden Parkplatz und jeden Radweg gekämpft wird.
Ich glaube, die alten Gesellschaftsbilder von links und rechts haben da häufig ausgedient. Natürlich muss es offene Plätze geben. Und die absolute Überdominanz des Autos in der Stadt verbaut viel offenen Raum.
Diana Kinnert: "Die neue Einsamkeit" (Hoffmann und Campe, 448 Seiten, 22 Euro)
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