Neuer Roman von Sven Regener: Einfach mal was machen

Schaffen, Scheitern, Weitermachen: Sven Regeners neuer Roman "Glitterschnitter".
Philipp Seidel
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Sven Regener ist in seinem neuen Roman ein Chronist der West-Berliner 80er Jahre
Sven Regener ist in seinem neuen Roman ein Chronist der West-Berliner 80er Jahre © Arne Dedert/dpa

Es geht ein wenig zu wie in den Meerschweinchen-Freigehegen im Zoo: Überall wuselt es, ständig passiert irgendwo irgendwas, der Blick des Betrachters fliegt hin und her: Hier zanken sich zwei, da frisst jemand fromm seine Karotte, ein paar dösen vor sich hin, und immer hängt mindestens einer an der Tränke.

Außerhalb des Geheges interessiert es keine Sau, was drinnen passiert, aber für die Wuselnden selbst ist es das pralle Leben. So geht es auch in Sven Regeners Kreuzberger Kosmos Anfang der 80er Jahre zu, von dem seiner neuer Roman "Glitterschnitter" erzählt.

"Wo viel Gutes passiert, passiert auch viel Doofes"

Mag das mauerumfasste West-Berlin räumlich auch noch begrenzt sein, für Künstler ist es ein Ort der unendlichen Möglichkeiten. Manche wurschteln alleine vor sich hin, andere finden sich in Grüppchen zusammen, um Kunst zu machen. Große Aufbruchstimmung mit allerlei Avantgarde-Kunst.

"Alle probierten einfach irgendwas aus", sagte Regener in einem Interview. Das sei ein bisschen wir in der Romantik wo einfach alles explodiert, ganz viel plötzlich überall rauskommt, auch viel Schrott, aber was solls, wo viel Gutes passiert, passiert auch viel Doofes."

Es ist die Welt, in der auch Sven Regener damals unterwegs war, die Welt, in deren wildem Einfach-mal-Machen sich auch seine Band Element of Crime formiert hat.

So eng und dicht bevölkert der Ort ist, so knapp ist auch die Zeit, von der Regener erzählt: Alles spielt sich innerhalb weniger Tage ab. Glitterschnitter ist eine dreiköpfige Band, bestehend aus Raimund, Ferdi und Karl Schmidt - das Personal kennt man von früheren Regener-Romanen - mit Schlagzeug, Synthesizer und Bohrmaschine, die einen Betonklotz traktiert. Und Glitterschnitter haben einen Traum: Sie wollen es auf das Musikfestival Wall City Noise schaffen.

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Viel mehr greifbare Handlung gibt es kaum, vielmehr erhalten wir wieder Einblick in ein wildes Tun und Treiben, das genau darum so aus dem Leben gegriffen wirkt, weil es eben nicht wie ausgedacht klingt.

Die Erzählung wechselt schnell zwischen den immer gleichen Schauplätzen, vor allem in der Wiener Straße, die einem schon bald vertraut vorkommen - beziehungsweise die man schon aus früheren Regener-Werken kennt.

Es gibt ein Wiedersehen mit Frank Lehmann, dem Held von Regeners Debütroman aus dem Jahr 2001. Der ist gerade nach Berlin gekommen, fremdelt mit der Stadt, vermisst seine Heimat Bremen - und ist verliebt in Chrissie, die wie er im Café Einfall arbeitet.

Vieles ist lustig in "Glitterschnitter"

Überhaupt: die Namen, die gehören für die Künstler zum Auftritt im 80-Jahre-Berlin. Die Handvoll Exil-Österreicher von der "ArschArt-Galerie" heißen P.Immel, Kacki und Jürgen 3, die Bar, die sie in einem ehemaligen Friseursalon betreiben, heißt "Intimfrisur".

Gleich zu Beginn werden wir Zeuge eines Kulturwechsels: der Milchkaffee hält auf Frank Lehmanns Betreiben Einzug im Café Einfall - wie in den Kneipen am Paul-Lincke-Ufer, "da haben die in jedem Laden Milchkaffee und die sind tagsüber immer brechend voll, die Leute trinken das gern!".

Vieles ist lustig in "Glitterschnitter" - Künstler H.R. Ledigt etwa baut bei sich daheim eine komplette Musterwohnung von Ikea ein -, die Lektüre macht Spaß: Regeners Sätze pfeifen auf Sprachökonomie, erstrecken sich bisweilen fast über eine halbe Seite, ohne an Lesbarkeit oder Eleganz einzubüßen. Seine Helden reden lebensbühnenwürdig vor sich hin, die ständige erlebte Rede gibt dem Text Charakterwürze.

Diese Würze kommt besonders im Hörbuch zum Tragen, das Regener mit seinem immer noch schwerst norddeutschen Dialekt selbst eingelesen hat.

Ein bisschen hat man immer Mitleid mit all diesen Menschen im Kosmos Kreuzberg, die da so vor sich hinmachen und ihre zum Teil sehr schrägen Ideen verfolgen, weil man ahnt, dass nicht alle Glück und Erfolg haben werden. Aber heimlich wünscht man es ihnen.


Sven Regener: "Glitterschnitter" (Galiani Berlin, 480 Seiten, 24 Euro), Hörbuch (2 MP3-CDs), gelesen vom Autor, bei Tacheles!

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