Neuer Roman von Jonathan Coe: Humor ist überlebenswichtig

Jonathan Coe hat mit "Mr. Wilder & ich" eine faszinierende und unterhaltende Hommage verfasst.
Volker Isfort
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Der britische Autor Jonathan Coe.
Der britische Autor Jonathan Coe. © Alejandro Gracia/picture alliance / dpa

Die griechische Filmkomponistin Calista fühlt mit 57 Jahren, dass ihre Fähigkeiten als Künstlerin und Mutter nicht mehr richtig gefragt sind.

Die Auftragslage ist mau, ihre Tochter Ariane tauscht das Familienleben in London gegen ein Studentenleben in Australien und deren Zwillingsschwester Francesca ist ungewollt schwanger, sieht aber in der Mutter keine kompetente Ansprechpartnerin für Probleme mehr. Als sie Ariane zum Flughafen fährt, bittet die Tochter die Mutter, ja keine Abschiedsszene zu machen. Schließlich sei sie doch selbst mal als junges Mädchen aus ihrer Heimat Athen nach Amerika geflogen.

Schweres leicht erzählen: Darin gleichen sich Wilder und Coe

Zurück zuhause beginnt Calista ihre Erinnerungen aufzuschreiben an jene verrückte Zeit in den 1970ern, in der sie Billy Wilder kennenlernte und sich unglücklich in einen jungen Mann verliebte - ein Sommer, der ihr ganzes Leben verändern sollte.

Als Chronist der britischen Gesellschaft hat sich der Autor Jonathan Coe ("Middle England") seine Begeisterung für Billy Wilder bislang eher indirekt anmerken lassen. Denn das, was Coe an Wilder so bewundert, nämlich die Fähigkeit, Schweres leicht zu erzählen, Tragik und Komik im selben Film zu mischen, zeichnet auch Coes beste Romane aus. Nun hat der 60-Jährige seine lebenslange Beschäftigung mit dem Regisseur in eine Hommage gegossen, die überzeugender nicht hätte ausfallen können.

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In "Mr. Wilder & ich" landet die 21-jährige Calista durch eine Zufallsbekanntschaft am Restauranttisch von Billy Wilder und seinem Drehbuchautor Iz Diamond im "The Bistro" in Beverly Hills.

Sie hat weder die geringste Ahnung, wem sie dort gegenübersitzt, noch hat sie jemals einen Film der beiden gesehen. Doch Monate später wird sie als Dolmetscherin am Set von "Fedora" in Griechenland mitwirken und im Anschluss als Assistentin von Iz Diamond in München und in Frankreich arbeiten.

Jonathan Coe: Souveräne Erzählkunst in warmherzigem Roman

Das mag als Romankonstruktion ein wenig bemüht klingen, aber Jonathan Coe hat aus der Grundkonstellation mit souveräner Erzählkunst einen überaus warmherzigen Roman geschaffen, der die ganze Gefühlspalette abdeckt, und dabei keineswegs die Tragik in Billy Wilders Lebens vergessen: Die Flucht aus Berlin im Jahr 1933 und die Rückkehr des jüdischen Exilanten ins zerstörte Europa, wo er im Auftrag der Briten den Film "Die Todesmühlen" über die Menschenvernichtung in den Konzentrationslagern zusammenschneidet, der der deutschen Zivilbevölkerung gezeigt werden soll. Diesen Abschnitt hat Coe in Form eines Drehbuchs verfasst.

Als Hollywood plötzlich nicht mehr auf Billy Wilders Instinkte setzte

Den Roman über den Zauber der Filmwelt, den Beginn und das Ende von Karrieren durchweht das melancholische Gefühl, dass die Welt sich viel zu schnell dreht. Billy Wilder und Iz Diamond haben schon seit eineinhalb Jahrzehnten keinen Kassenschlager mehr geschafft. "Fedora" wird mit deutschem Geld gedreht, weil Hollywood nicht mehr auf Wilders Instinkte setzt. Die "Jungs mit den Bärten" haben dort das Ruder übernommen, was Wilder in die Sinnkrise treibt: Was ist das für eine Welt, in der Menschen wegen weißen Haien ins Kino gehen? Eine Sinnkrise freilich, die, wie immer, mit der Suche nach der besten Pointe endet.

Jonathan Coe sorgt für rührendes Kopfkino

Auch Coe ist ein satirisches Schwergewicht: Wie Billy Wilder im Bayerischen Hof Al Pacino (damals mit "Fedora"-Darstellerin Marthe Keller liiert) wegen der Bestellung eines Cheeseburgers angeht, gehört zu den komödiantischen Höhepunkten dieses Romans.

Aber der Humor der beiden Alten, das wird Calista bald klar, ist nicht zweckfrei: Es ist der Versuch, einen Moment lang den Blick in die Abgründe des Lebens vergessen zu machen. Er ist überlebenswichtig.

Dass "Mr. Wilder & ich" schon nach 270 Seiten endet, ist die einzige Enttäuschung, die Jonathan Coe liefert, schließlich möchte man dieses rührende Kopfkino nur sehr ungern wieder verlassen.


Jonathan Coe stellt "Mr. Wilder & ich" (Folio, 280 Seiten, 22 Euro) am 16. September um 19.30 Uhr im Literaturhaus (Salvatorplatz) vor.

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