"Mr. Wilder & ich": Melancholie und Obsession

Als Chronist und satirischer Beobachter der britischen Politik und Gesellschaft hat sich Jonathan Coe in seiner Heimat, aber auch international einen Namen gemacht. In seinem neuen Roman "Mr. Wilder & ich"verpackt er seine Bewunderung für den legendären Regisseur in eine hinreißende Geschichte, die ständig zwischen realer und fiktiver Vergangenheit changiert. Denn erzählt werden die Dreharbeiten zu "Fedora", die Wilder nach Griechenland, aber auch nach München führten, aus der Sicht einer fiktiven jungen Dolmetscherin, die an der Seite von Wilder und seinem Drehbuchautor I.A.L. Diamond einen Sommer erleben wird, der ihr Leben ändert.
AZ: Mister Coe, wann sind Sie mit Billy Wilder in Berührung gekommen?
JONATHAN COE: Ich war 14 oder 15 Jahre alt und ein riesengroßer Sherlock Holmes Fan. Wie mein Großvater. Mit ihm habe ich "The Private Life of Sherlock Holmes" angeschaut und mochte ihn sehr. Damals konnte man Wilder-Filme ja nur sehen, wenn sie im Fernsehen liefen, Video gab es noch nicht. Ich wurde so ein obsessiver Fan, dass ich die Filme auf meinem Kassettenrekorder aufgenommen und immer wieder gehört habe.
Einen Film zu hören, klingt nicht sehr aufregend.
Ich fand das überhaupt nicht langweilig. Mit Hitchcock-Filmen wäre das natürlich etwas anderes. Es gibt in "Vertigo" diese fantastische Szene, in der James Stewart zu Bernard Herrmanns Musik durch die Straßen von San Francisco fährt. Man sieht nur sein Gesicht und das, was er sieht. Nichts passiert, aber es ist total überzeugend. Wilder hätte so eine Sequenz visuell niemals hinbekommen, dafür hatte er halt die tollen Dialoge. Wilders Gesamtwerk habe ich dann erst gesehen, als es 1979 in meiner Heimatstadt Birmingham eine Retrospektive gab. Wilder hat meinen Geschmack geprägt und ich bin bis heute bei ihm geblieben.
Jonathan Coe: Ich habe den Krisenpunkt in meiner Karriere noch nicht erreicht
Sie haben das Buch aus der Perspektive einer fiktiven Dolmetscherin geschrieben.
Calista ist eine sehr autobiografische Figur, als junge Frau, wenn Sie mit naivem Blick die Filmwelt entdeckt, aber auch als ältere Frau, die das Gefühl hat, dass ihre Talente nicht mehr richtig gefragt sind, so wie Wilder, zu dem Zeitpunkt als er für die Realisierung von "Fedora" kämpft. Ich habe so etwas Ähnliches als Vater gespürt, dass man der heranwachsenden Tochter zwar alles geben will, aber die Unterstützung dann nicht mehr so angenommen oder gewollt ist.
Aber als Künstler fühlen Sie sich noch nicht aus der Zeit gefallen?
Nein, ich habe noch lange nicht das Gefühl, dass ich diesen Krisenpunkt in meiner Karriere erreicht habe. Aber ich glaube schon, dass ich mich mit dem Schreiben dieses Buches ein bisschen darauf vorbereitet habe.
Sie haben nicht wie Wilder das Problem, viel Geld einsammeln zu müssen, um ein neues Projekt zu starten.
Das ist ein großer Vorteil, wenn man Autor ist. Der ältere Billy Wilder wollte sich einfach weiterhin als Künstler ausdrücken können und war vollkommen abhängig davon, dass er Geldgeber findet. Das hat sein Selbstbewusstsein erschüttert. Ich habe 1987 mein erstes Buch in England veröffentlicht. Damals war das Verlagswesen noch eine Art Gentleman-Amateurbusiness, es wurde geradezu als vulgär angesehen, einem Autor viel Geld für ein Buch zu zahlen. Es herrschte noch die Idee vom Autor, der sein Geld mit anderen Dingen verdient. Ich komme aber nicht aus der Oberschicht und die 200 Pfund, die ich für meinen ersten Roman erhielt, waren natürlich ein Witz. Glücklicherweise änderte sich das bald.
"Wilder, nicht Corona, hat meine Stimmung über Monate bestimmt"
Sie haben das Buch beendet, als die Welt im ersten Lockdown verharrte, in einer Schockstarre. Fühlt es sich dann nicht seltsam an, über Billy Wilders Dreharbeiten in den 70er Jahren zu schreiben?
Als ich "Middle England" über den Brexit schrieb, war ich ja genau in dieser Zeit, alles passierte im Buch und in der Realität gleichzeitig. Diesmal bin ich für zwei Jahre in ein komplett anderes Universum abgetaucht und war auch während des Lockdowns glücklich über mein Thema, das war wie eine Erholung verglichen zur Realität. Es war dieser Mix aus Melancholie und Humor, der mich bei Wilder immer angezogen hat. Und so war es nur logisch, dass ich versucht habe, genau diese Atmosphäre auch auf mein Buch zu übertragen. Wilder, nicht Corona, hat meine Stimmung über Monate bestimmt.
Es ist auch ein Buch über Beziehungen und Freundschaft. Wilders Beziehung zu seinem Drehbuchautor I.A.L. Diamond ist außergewöhnlich. Sie sind Jahrzehnte jeden Tag gemeinsam in ihr Büro gegangen, um dort kreativ zu sein. Könnten Sie sich so etwas vorstellen?
Der Film wurde zwar nie realisiert, aber ich habe mal ein Zeit lang gemeinsam mit Julie Gavras, der Tochter des griechischen Regisseurs Costa-Gavras, an einem Drehbuch gearbeitet. Sie war mehr Billy Wilder, die durch das Zimmer lief und ständig irgendwelche Ideen hatte und ich hatte die Rolle von Mr. Diamond, saß am Computer und versuchte, diese einzuarbeiten. Eine große Erfahrung, die ich aber nicht jeden Tag brauche. Diamond und Wilder haben das fast 30 Jahre lang so gemacht. Es gibt Interviews, in denen Wilder zugibt, dass sie sich manchmal auch nichts zu sagen hatten, aber sie müssen Seelenverwandte gewesen sein. Ich bin viel zu sehr Einzelgänger für so ein Geschäft.
Aber sie erzählen die Freundschaft der beiden in herzerwärmendem Ton.
Ich habe mich gefragt, ob ich Wilder nicht sogar zu nett gezeichnet habe, er konnte ja auch gemein sein. Er konnte dumme Menschen einfach nicht ertragen.
Ich würde das Buch gerne als Film sehen, aber die Story spannt sich über die Jahrzehnte und Kontinente, das ist wohl sehr teuer.
Eine Menge meiner Bücher wurden optioniert, aber nur wenige wurden letztendlich verfilmt. Im konkreten Fall gibt es einen Interessenten und ich bin sogar ein bisschen optimistischer als sonst, dass es geschehen könnte.
Jonathan Coe: "Brexit war unser Trump"
Es gibt eine wunderschöne Stelle über die Notwendigkeit von Humor in Ihrem Buch: dass Humor nicht nur schön sei, sondern auch für seltene Momente dem Leben einen Sinn verleiht. Haben Sie das von Wilder?
Calista erzählt diesen Abschnitt, aber das bin ich, der da spricht. Meine Freunde, die das Buch gelesen haben, haben das sofort gemerkt. Die kennen mich besser als ich.
Das Buch war für Sie auch eine Art Urlaub von der britischen Gesellschaft, die Sie sonst satirisch betrachten.
In "Middle England" habe ich alles reingetan, was ich zum Thema Brexit sagen wollte, ich brauchte Abstand.
Waren Sie erleichtert, dass endlich die Diskussionen um den Brexit aufhörten, die Gesellschaft sich vielleicht sogar wieder versöhnen könnte.
Das Problem ist doch, dass es beim Brexit gar nicht um den Brexit ging. Das war eine Stellvertreterdiskussion für alle kulturellen und politischen Debatten zur nationalen Identität. Ähnliches passiert ja auch in anderen westlichen Nationen. Brexit war unser Trump, dahinter stecken dieselben Unzufriedenheitsgründe. Der Brexit ist zwar jetzt vollzogen, in dem Sinne, dass wir die Europäische Union verlassen haben, aber das hat keineswegs dazu geführt, dass nun die Spaltung in der Gesellschaft geringer ist.
Glauben Sie, dass Sie bald wieder einen Roman über England schreiben müssen, schon allein um Boris Johnson ein auszuwischen?
Er kommt sogar schon in meinem nächsten Buch vor, da ist er allerdings eine Nebenfigur, ein britischer Reporter im Brüssel der 90er Jahre. Und ehrlich gesagt, habe ich noch nicht die geringste Ahnung, wie ich das, was Boris Johnson als Premier tut, in Worte fassen könnte. Hilary Mantel hat vor kurzem gesagt, sie habe Johnson ein paar Mal getroffen, er könne sehr charmant sein, aber er sollte kein politisches Amt ausüben - und er wisse dies auch ganz genau.
Jonathan Coe: "Mr. Wilder und ich" (Folio Verlag, 280 Seiten, 22 Euro)