Bob Dylan: Der Picasso des Songs
Es war längst ein Running Gag geworden: Bekommt er ihn diesmal? Seit Jahren wurde Bob Dylan als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt, derart lange schon, dass man den Glauben verlieren konnte, dass er die Auszeichnung zu Lebzeiten noch erhalten könnte. Doch am 10. Dezember, im Alter von 75 Jahren, wird Bob Dylan mit dem Nobelpreis für Literatur in Stockholm ausgezeichnet.
Erstmals also kein Schriftsteller, sondern ein Songwriter: Dylan werde „für seine poetischen Neuschaffungen in der großen amerikanischen Gesangstradition geehrt“, so die Urteilsbegründung. Das klingt plausibel, verbirgt jedoch die enorme Sprengkraft, die diese „poetischen Neuschaffungen“ in sich trugen. Denn die Wirkung von Bob Dylans Dichtung reicht über sein eigenes Werk unendlich weit hinaus.
Dylans Einfluss auf die westliche Kultur ist gigantisch
Die vom Nobelpreiskomitee erwähnte „amerikanische Gesangstradition“ mündete in den Fünfziger und Sechziger Jahren im Rock, einer amerikanischen Musik, die – vor allem über den Umweg Liverpool – eine nie dagewesene Massenwirkung entfalten sollte. Sie sprach mit voller Wucht den Körper an, das Herz, die Beine und mitunter auch Körperteile dazwischen – das Hirn weniger. „She Loves You, Yeah, Yeah, Yeah“ oder „A Wop Bop A Loo Bop A Lop Bam Boom“ – intellektuell war das überschaubar. Bob Dylan sollte das im Alleingang ändern.
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Dabei war 1961, als der als Robert Allen Zimmerman im US-Staat Minnesota geborene Musiker in New York sein erstes Album aufnahm, von Dichtkunst noch nichts zu spüren. Der legendäre Talentscout John Hammond hatte ihn unter Vertrag genommen, weil er ihn Mundharmonika spielen gehört und ein nicht näher zu definierendes Charisma gespürt hatte. Auf seiner ersten Platte sang Dylan noch alte Folksongs und lediglich einen eigenen Song, in dem er sich vor seinem Idol Woody Guthrie verbeugte. Erst dann folgte die kreative Explosion.
Die rhetorischen Fragen von „Blowin’ in The Wind“ krakelte er in ein paar Minuten aufs Papier. Er war selbst überrascht davon: Wo sie her kamen, wusste vielleicht der Wind, er jedenfalls nicht.
Auf „The Freewheelin’ Bob Dylan“ (1962) waren noch mehr solcher Songs für die Ewigkeit: „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ mit seinen apokalyptischen Zeilen, die noch heute die Schrecken der Kuba-Krise spürbar machen, „Masters of War“, ein Schlachtgesang gegen die Kriegsindustrie, oder das Blues-getränkte „Don’t Think Twice, It’s All Right“, auf der er seiner Verflossenen noch eine mitgibt: „I gave her my heart, but she wanted my soul“, sang er: Ich habe ihr mein Herz gegeben, aber sie wollte meine Seele.
Die wollte bald eine ganze Generation. Dylan sang für die Bürgerrechtsbewegung und rief auf „The Times They Are A-Changin’“ in biblischer Sprache den Generationenwechsel aus. Und seine Generation erkor ihn sogleich zum Anführer, was ihm gar nicht recht war. Er wollte sich nicht vereinnahmen lassen und schrieb erst mal keine Songs mehr, die man als Protestlieder verstehen konnte. „It is not he or she or them or it that you belong to“ sang er später: Du gehörst niemandem! Für ihn galt das zuallererst.
Statt dessen wandte er sich nach Innen: Seine Songs wurden impressionistischer, surrealer, kunstvoller – und so reich wie die Einflüsse, aus denen er sich bediente. Da war der unerschöpfliche Vorrat an alten Folk-, Country-, Gospel- und Bluessongs, das gesamte „American Songbook“.
Dazu kam die Bibel und alles andere, was er in die Finger bekam: Beat-Poesie, Baudelaire, Rimbaud, Brecht. „Mona Lisa musta had the Highway Blues, you can tell by the way she smiles“, sang er in „Visions of Johanna“: „Mona Lisa muss den Highway-Blues gehabt haben, so wie ihr Lächeln aussieht“.
Damit brachte er in einer Zeile zusammen, woraus er sich bediente: die hohe europäische Kunst und die Volksmusik Amerikas.
Dem Rock ein Gehirn geschenkt
Auf dieser Basis schrieb er eine kaum zu überschauende Menge an großartigen Songs, quer durch alle Lebensjahrzehnte, bis hin zu seinem großen Alterswerk: Leonard Cohens Formulierung, Dylan sei der „Picasso of Song“, trifft es also in jeder Hinsicht. Vor allem aber brachten diese Songs überhaupt erst literarisches Niveau in die Popmusik – und das veränderte alles.
Sein Einfluss auf die Musikszene der Sechziger, angefangen mit den Beatles, war fundamental: Erst seit Dylans Songs populär wurden, interessierten sich Songwriter so sehr für ihre Texte wie für ihre Musik. John Lennon schämte sich schon bald für seine frühen Texte und schrieb „Girl“ und „Nowhere Man“. Als die amerikanische Rockmusik 1965 kreativ explodierte, war Dylans Einfluss bereits allgegenwärtig, ja die Grundlage von fast allem.
Bruce Springsteen brachte das einmal auf den Punkt: Elvis Presley habe dem Rock einen Körper geschenkt – und Bob Dylan ein Gehirn. Sein Einfluss ist indirekt noch heute in jedem Song zu hören, dessen Text über reine Gebrauchslyrik hinaus geht. Nicht jeder bisherige Preisträger hatte eine solche Wirkung auf die westliche Kultur.
Dass die Nobelpreisjury ihre Definition von Literatur mit dem Preis an Dylan ausgeweitet habe, bestritt Akademie-Chefin Sara Danius. Dylan schreibe, um mit seinen Werken aufzutreten. Nichts anderes habe der Dichter Homer vor einigen Jahrtausenden auch getan.
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