"Doktor Alici" von Olga Bach und Ersan Mondtag - die AZ-Kritik
Kammerspiele: In „Doktor Alici“ bekommt München eine muslimische Polizeipräsidentin
München, kurz vor der nächsten Landtagswahl im Spätsommer 2023. Es regnet. Nein, es schüttet, blitzt und donnert, als wollte Gott das sündige Bayernland mit einer zweiten Sintflut ertränken. Und in der Ettstraße wacht eine mit Hilfe der Grünen ins Amt gekommene Polizeipräsidentin über Sicherheit und Ordnung in der Stadt.
Ehe sich der Jugendstilvorhang der Kammer 1 vor dieser Szenerie erhebt, werden bekannte postdramatische Späße abgespult. Ein sich selbst spielender Darsteller macht für Mami ein Selfie und begrüßt den Hausherrn Matthias und die Kollegin Christine von der „Süddeutschen“. Dann ziehen die Schauspieler zu Blasmusik ein, und für einen Moment hebt das Derblecken bayerischer Landespolitik nach Nockherberg-Manier sein grausiges Haupt, um sofort wieder zu verschwinden.
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Der Regisseur Ersan Mondtag erspart einem den Spott vom kabarettistischen Wühltisch. Hinter dem Schmuckvorhang befindet sich ein Bayern, das im provinziellen Mittleren Westen der USA angesiedelt ist und dem Film Noir entsprang (Bühne: Nina Peller). Wenn es nicht regnet, schreien Käuzchen und kopulierende Eichhörnchen zur dräuenden Bläsermusik von Diana Syrse. Das alles bricht eine puppentheaterhafte Stilisierung noch weiter, die sehr raffiniert an Meyerhold und das groteske russische Theater der 1920er Jahre erinnert (Kostüme: Teresa Vergho).
Keine platte Islamkritik
Dass das alles nicht völlig glatt aufgeht und ein wenig schlampig klappert, ist paradoxerweise eine Stärke. Und fast hätten wir vergessen: „Doktor Alici“, Münchens Polizeipräsidentin, ist eine Muslima. Olga Bachs Stück gründet auf den Figuren und der Handlung von Artur Schnitzlers „Professor Bernhardi“. Aber die Autorin und noch mehr der Regisseur verzichteten darauf, den in der Vorlage allgegenwärtigen Antisemitismus in platter Form mit der sogenannten Islamkritik kurzzuschließen und einen deftigen Houellebecq-Abend zu veranstalten.
Die Religionszugehörigkeit von Dr. Selin Alici wird immer im Zusammenhang mit ihrem Migrationshintergrund erwähnt. Aber damit verbindet sich eine tolerante Abneigung, ähnlich wie in Schnitzlers Komödie, wo jeder kernige Österreicher einen Juden seinen besten Freund nennt. Dem dortigen Fin de Siècle vor dem Untergang des Abendlandes entspricht bei Mondtag der endzeitliche Dauerregen, in dem allerlei Regenschirmballette aufgeführt werden.
Die Rechten und die Reichsbürger
Schnitzlers Professor bekommt Ärger, weil er eine nach einer illegalen Abtreibung sterbende Frau vor der Jenseits-Angstmacherei eines Pfarrers schützen will. Die Polizeipräsidentin dagegen setzt fünf Mitglieder der im Landtag vertretenen Partei „Proaktiv fürs Abendland“ fest. Die stehen laut einem anonymen Informanten des Verfassungsschutzes der Reichsbürgerszene nahe und sollen Waffen gehortet haben.
Tote gibt es hier auch: einen Rechten, dessen medizinische Behandlung wegen allerlei juristischer Winkelzüge unterblieben ist. Die Autorin verdeutlicht die Problematik des neuen Polizeiaufgabengesetzes, das es erlaubt, Verdächtige ohne juristische Überprüfung längere Zeit festzuhalten. Das wird hier geschickt durchgespielt, nach der guten Tradition des Konversationsstücks, in dem jeder für seinen Standpunkt gute Argumente vorträgt, aber niemand wirklich recht bekommt.
Die korrekte Polizeipräsidentin ist nicht geschmeidig genug für diese Welt. Hürdem Riethmüller geht in der resoluten, reifen Dame völlig auf, die sich durch Schroffheit und einen sarkastischen Tonfall unbeliebt macht. Und sie fügt eine leichte Unsicherheit hinzu. Doktor Alicis Schwäche ist außerdem nicht der Islam, sondern die Liebe zu einer Südosteuropäerin mit nicht restlos korrektem Aufenthaltsstatus (Jelena Kulic). Mit der fantasiert sie im Bett sehr lustig auf Bairisch über die Internierung aller Rad- und Autofahrer. Aber die nicht öffentlich gemachte Beziehung macht sie erpressbar, was sich der geschmeidige Herr Bauer vom Innenministerium nicht entgehen lässt.
Herr Karl und Hermann Göring
Samouil Stoyanov trägt in dieser Rolle einen Ledermantel und sieht aus wie Hermann Göring, gespielt von Helmut Qualtingers gemütlich-bösem Herrn Karl. Der Herr Bauer mag die Frau Doktor eigentlich. Und letztlich ist er sogar scharf auf sie, was Stoyanov brutal ausspielt, ohne diese bei Schnitzler vorgebildete und von der Regie kunstvoll neu zusammengesetzte Figur jemals zur billigen Karikatur zu überzeichnen.
Die anderen Rollen bleiben Pappnasen, vom Praktikanten (Thomas Hauser) über den uralten Rechthaber der Partei „Die Ökologen“ (Michael Gempart) bis zum herumschreienden Rechten (Christian Löber) und dem hier als Talkshowheini gut besetzten Damian Rebgetz. Da gleitet der intelligente Spaß dieses Abends ein wenig ins Kabarettistische ab, ehe zuletzt München ganz absäuft, obwohl sich am Ende des zwischen Kunst, Ernst und Satire bestens ausbalancierten Abends eine schwarzgrüne Koalition zur Rettung eines bunten Bayern abzeichnet.
Und bei dieser Drohung fällt einem auf: Was macht eigentlich die in „Doktor Alici“ mit keinem Wort erwähnte Sozialdemokratie? Sie wurde als irrelevant vergessen. Es muss schlimm um sie stehen.
Kammer 1, wieder am 28., 31. Januar, 6., 14. und 23. Februar
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