Bahnchaos schlimmer als angenommen: "Es braucht endlich Sachverstand an der Spitze des Konzerns"
Berlin/München - Geht es nach vielen Pendlern und Reisenden könnten die Zustände bei der Deutschen Bahn (DB) kaum schlimmer sein. Die meisten rechnen am Bahnhof nicht einmal mehr damit, pünktlich an ihr Ziel zu kommen, oder nehmen gleich einen früheren Zug.
Nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung" haben Signalstörungen, Stellwerksausfälle und kaputte Schienen ein Ausmaß angenommen, das gravierender ist als bisher gedacht. Allein in diesem Jahr müssten die Fahrpläne der DB zwischen zwei und drei Millionen Mal geändert werden.
Die Planung der Zugfahrten gerate zunehmend zum Lotteriespiel, heißt es in dem Bericht. Ein Aufsichtsratmitglied des Bahn-Konzerns sagt der Zeitung: "Fahrpläne werden nicht mehr gerechnet, sondern nur noch geschätzt." Es herrsche ein "Kontrollverlust" bei den Fahrplänen. Die Bahnkunden könnten sich daher überhaupt nicht mehr auf die angekündigten Zeiten verlassen.
Chaos Deutsche Bahn: Marodes Schienennetz Schuld an Verspätungen: "In einer Größenordnung, die man bisher nicht kannte"
Schuld an den Verhältnissen sei das marode Schienennetz. Seit Jahrzehnten sei es mangelhaft gewartet worden. "In einer Größenordnung, die man bisher nicht kannte", so das Aufsichtsratmitglied, kämen neue Langsamfahrstellen hinzu.
Diese Gleisabschnitte verursachen meist nicht unerhebliche Verspätungen. Sie werden aufgrund von Mängeln an der Infrastruktur oder wegen Baustellen eingerichtet.
Dass die Bahn die Fahrpläne nur noch unzureichend einhält, führt auch zum vermehrten Einsatz von Reservezügen, die immer dann losrollen, wenn die laut Fahrplan eigentlich vorgesehenen Züge ihr Ziel so spät erreichen, dass die nächste Fahrt hinfällig wird ‒ auf Dauer ein teurer Vorgang, da die Reservezüge zusätzliches Personal erfordern.
Das überlastete und an vielen Stellen überalterte Streckennetz bremst den Verkehr der Bahn seit Jahren spürbar aus. Die Pünktlichkeit im Fernverkehr lag im ersten Halbjahr bei nur noch 62,7 Prozent ‒ rund sieben Prozentpunkte weniger als im ersten Halbjahr 2023, wie die Bahn Ende Juli mitteilte.
Selbst innerhalb des Bahn-Konzerns erkennt man die dramatische Lage. "Deutschland hat heute die älteste Stellwerkslandschaft in Westeuropa", sagt Philipp Nagl, Vorstandschef der DB Infrago, die als DB-Tochter das Schienennetz und die Bahnhöfe betreibt. Der "SZ" sagt er weiter: "In den vergangenen Jahrzehnten wurde zu wenig erneuert, zu wenig in die Sanierung gesteckt."
GdL-Chef Claus Weselsky über Stimmung der Lokführer: "Einige sind bedrückt, viele wütend"
Die Zustände treffen auch diejenigen, die tagtäglich auf der Schiene arbeiten - die Lokführer. "Die Stimmung ist schlechter denn je. Einige sind bedrückt, viele wütend", sagt der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, Claus Weselsky, der AZ.

"Es braucht endlich Sachverstand an der Spitze des Konzerns. Aktuell sitzen da lauter Juristen und BWLer und sacken für erwiesene Schlechtleistung ihre Millionen ein." Weselsky und seine GdL fordern einen Strukturwechsel: die Trennung der DB Infrago vom Rest des DB-Konzerns.
Einen Hoffnungsschimmer bietet die sogenannte Generalsanierung der Bahn. Bis 2031 sollen 41 Bauvorhaben zur Verbesserung hochbelasteter Hauptstrecken abgeschlossen sein. Auch die Ampelkoalition hat sich im neuen Haushalt auf mehr Mittel für die Bahn geeinigt.
"Spätestens seit der Katastrophe bei Garmisch ist es ein wenig gehütetes Geheimnis, dass die deutsche Infrastruktur am Ende ist ‒ egal ob Stellwerke oder Schwellen", sagt Lukas Iffländer, Landesvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn in Bayern, der AZ.
Lange angekündigte Verbesserungen würden sich um Jahre verzögern, wie etwa der Stellwerkbau am Münchner Ostbahnhof. Auch die Sanierungen würden nur wenig verbessern.
Betroffenen Fahrgästen empfiehlt er immer die Fahrgastrechte zu nutzen und Entschädigungen zu beantragen. "Ansonsten braucht es in den nächsten Jahren einen gesunden schwarzen Humor."
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