Wie ein Landshuter gegen Baby-Mafia in Ex-Jugoslawien kämpft

Im ehemaligen Jugoslawien wurden seit den 60er Jahren Tausende Säuglinge für tot erklärt und danach verkauft. Marko Ivic aus Landshut wurde ein Neugeborenes zum Kauf angeboten.
Marie Sepaintner |
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Marko Ivic aus Landshut wurde im ehemaligen Jugoslawien in einem Krankenhaus ein Säugling zum Kauf angeboten. Heute kämpft er gegen die "Baby-Mafia".
Marie Sepaintner Marko Ivic aus Landshut wurde im ehemaligen Jugoslawien in einem Krankenhaus ein Säugling zum Kauf angeboten. Heute kämpft er gegen die "Baby-Mafia".

An die langen schwarzen Wimpern des Babys erinnert er sich nach über 30 Jahren noch immer. Er war irgendwie sofort verliebt, sagt Marko Ivic. Vatergefühle von null auf hundert. Vatergefühle für ein Baby, das er 1988 in einer Belgrader Klinik hätte kaufen können, für 10.000 Mark. Dann wäre es seins gewesen – und gleichzeitig wäre Ivic heute ein Verbrecher. Das Licht in Marko Ivics Restaurant in Landshut ist schummrig. Draußen nieselt es, ein grauer Tag. Auch die Geschichte, die der Mann erzählt, ist dunkel. Es ist so eine, die man nicht glauben will: In serbischen Kliniken wurden Säuglinge erst für tot erklärt und danach für viel Geld verkauft. Ärzte, Hebammen, Standesbeamte, Politiker: Viele seien in das Verbrechen verwickelt gewesen, sagen Betroffene.

Hunderte Eltern klagen gegen Serbien und fordern Aufklärung

Es sei ganz einfach ein lukratives Geschäft gewesen. Wer der Kopf hinter dem Ganzen ist, wüsste man nicht genau, erklärt Ivic. "Baby-Mafia", sagt er dazu. Es ist ein Geschäft, das zulasten der Seelen von Eltern und Kindern geht – auch heute noch.

6.000 bis 10.000 solcher Fälle soll es seit den 60er Jahren gegeben haben, heißt es in Medienberichten. Hunderte Eltern klagen laut Europäischem Gerichtshof gegen Serbien. Sie verlangen Aufklärung vom Staat, weil das Netzwerk hinter dem Verbrechen nicht bekannt ist. Viele Familien suchen auch noch Jahrzehnte später nach ihren gestohlenen Kindern. Sie sind sich sicher, dass sie am Leben sind. Was bleibt, ist unfassbarer Schmerz.

Marko Ivic ist heute 62 Jahre alt. Der Kroate und seine Frau sind seit über 40 Jahren ein Paar. "In der Jugend und heute, die große Liebe", sagt er. Den beiden gehört das Restaurant "El Rancho". Montag bis Sonntag arbeiten sie hier – ohne Ruhetag. Während Ivic seine Geschichte erzählt, schneidet ein paar Tische weiter ein Mann sein Wiener Schnitzel.

"Mit eigenen Kindern hat es nie geklappt", sagt Ivic. Zuerst wollen sie keine, aber als sie vor 40 Jahren nach Deutschland kommen, entscheiden sie sich dafür. Weil sie auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen können, wollen sie adoptieren. Die beiden wünschen sich ein Mädchen, das Marko Ivics Frau ähnlich sieht – mit dunklen Haaren und dunklen Augen, erzählt Ivic. "Meine Frau wollte eine kleine Prinzessin, später eine Freundin."

Ein Urlaub bei seiner Familie im ehemaligen Jugoslawien verändert alles. Ihn selbst vor allem. Es ist ein heißer Tag im Juli 1988. Ivic parkt neben Tannenbäumen vor einem Belgrader Krankenhaus, erinnert er sich heute. Mit in seinem BMW sitzt Dragan, ein Mann, den sein Stiefvater kennt. Dragan soll selbst ein Kind in diesem Krankenhaus adoptiert haben. "Mir war da schon komisch", sagt der Landshuter. "Ich wollte ein Kind adoptieren und der Mann führte mich vor ein Krankenhaus. Warum kein Kinderheim?" Aber Ivic steigt aus, lässt seine Zweifel im BMW zurück.

Arzt garantiert, dass sie als leibliche Eltern eingetragen werden

Drinnen sagt der Chefarzt der Klinik, er habe ein Baby für Ivic. Es sei das Kind einer jungen Studentin, 10.000 Mark solle er zahlen. Zwillinge würde er für 15.000 Mark bekommen. Ivic, der davon ausgeht, dass das Geld der Waisenfürsorge zugutekommt, fragt, wo er das Geld einzahlen soll. "Hier", sagt der Chefarzt, bei ihm selbst.

Zuvor dürfe er die Kinder aber sehen. Ivic denkt nicht weiter nach. Er fragt noch, wie das Kind in die Papiere eingetragen wird. Der Arzt sagte, man könne einfach überall hinschreiben, dass Ivics Frau das Baby bekommen habe. Er garantiere ihm, dass auf der Geburtsurkunde steht, dass er und seine Frau die leiblichen Eltern sind.

Einige Minuten später bekommt er einen Arztkittel und geht mit dem Chefarzt und einer Schwester auf die Geburtenstation. Im Babyzimmer liegen neun Babys. Hier sieht Ivic das Neugeborene mit den langen Wimpern. "Ivic, wähle", sagt der Arzt. Ivic schaut das Baby an, spürt zum ersten Mal Vaterliebe. "Ivic, wähle", sagt der Arzt noch mal. Und wieder. "Ivic, wähle."

In diesem Moment wird Ivic klar, dass er kurz davor ist, ein Verbrechen zu begehen. "Ich hätte jedes wählen können. Ich war wie ein Glas, das zerspringt." Ivic verlässt die Klinik und erzählt zu Hause alles seiner Frau.

Ivic erinnert sich noch heute an das kleine Mädchen von damals

Es ist für das Ehepaar ausgeschlossen, auf diese Art ein Kind zu bekommen. Sie beschließen, nie wieder einen Gedanken an Adoption zu verschwenden. Das Paar bleibt kinderlos. Aber auch Jahre später ist das kleine Mädchen noch in Ivics Kopf gespeichert. "Sie war wie ein Engel." Das Baby mit den langen Wimpern und die acht anderen in dem Zimmer: Sie sind nicht die einzigen, die in Serbien verkauft wurden. Mütter hätten ihre Kinder oft schon gestillt und gesehen, dass es ihnen gut geht – am nächsten Tag sagte der Arzt, dass das Baby tot sei, erzählt Ivic. Die Leichen durften die Familien nie sehen. "Die Ärzte sagten: ,Du bist jung, du bekommst andere Kinder‘", erklärt Ivic.

Er versucht, wenigstens einige Eltern wieder mit ihren gestohlenen Kindern zu vereinen. Die Aufklärung über den Handel mit Kindern ist zu seiner Lebensaufgabe geworden. Er will es die ganze Welt wissen lassen, arbeitet mit serbischen Vereinen zusammen, die dasselbe tun. Oft fliegt er nach Serbien, sucht nach Hinweisen. Ivic habe sogar schon einige Eltern wieder mit ihren Kindern vereint.

Das Auswärtige Amt verweist bei dem Thema auf die serbischen Behörden. Die haben auf Nachfrage noch nicht reagiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab einer Mutter jedoch 2013 recht. Der Staat Serbien musste ihr Entschädigung zahlen.

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