Interview

Telefonseelsorge der Erzdiözese München: "Wir sind keine Ratschlagfabrik"

Menschen in Krisen und Not zuhören – die Telefonseelsorge der Erzdiözese sucht dafür neue Ehrenamtliche. Warum Einsamkeit ein großes Thema ist und welche Fähigkeiten man für den Einsatz braucht.
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Viele Menschen melden sich bei Sorgen und Nöten bei der Telefonseelsorge.
Viele Menschen melden sich bei Sorgen und Nöten bei der Telefonseelsorge. © ho

Seit über 60 Jahren gibt es die Telefonseelsorge der Erzdiözese. Hierbei handelt es sich um ein kostenloses Angebot für alle, die jemanden zum Zuhören brauchen – ganz anonym. 

Tobias Lehner ist Journalist und Diplom-Theologe. Seit vielen Jahren unterstützt der 41-Jährige die Telefonseelsorge ehrenamtlich, mittlerweile ist er gar hauptamtlich am Telefon tätig. In der AZ erzählt er, was ihn für diese Aufgabe motiviert, über welche Themen er mit den Menschen spricht und wie schwer es ihm fällt, nach dem Telefondienst "loszulassen". 

AZ: Herr Lehner, für Menschen in Not ein offenes Ohr haben – warum haben Sie sich für die Arbeit bei der Telefonseelsorge entschieden?
TOBIAS LEHNER: Meine Motivation war zweiteilig. Einerseits wollte ich für Menschen in Not da sein, und zwar auf eine niederschwellige Art und Weise: Wer bei der Telefonseelsorge anruft oder sich elektronisch meldet, schafft es oft nicht, sich an eine Beratungsstelle zu wenden, und manchmal ist es sogar schwer, das Haus zu verlassen. Trotzdem ist die Not da. Der zweite Teil meiner Motivation war es, eine Aufgabe mit zeitlicher Flexibilität und gleichzeitig Wirksamkeit zu finden.

Aktuell fühlt sich die Welt an, als wäre sie in einem Dauerkrisenmodus. Merken Sie das auch bei der Telefonseelsorge? Rufen mehr Menschen an?
Die Zahl der Menschen, die uns per Telefon erreichen, bleibt seit Jahren konstant – mit leichtem Aufwärtstrend. Wir könnten zehnmal so viele Telefonanrufe annehmen, aber wir können mit unserer Erreichbarkeit – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche und das mehrfach besetzt – nicht mehr Gespräche führen. Es versuchen uns oft mehr Menschen zu erreichen, als wir annehmen können. Wo wir ebenfalls eine Zunahme feststellen, ist online. Wir sind auch per Chat und Mail erreichbar.

Telefonseelsorge: Einsamkeit als Dauerthema

Haben sich die Themen verändert?
Weil Sie vorhin vom Dauerkrisenmodus gesprochen haben: Corona und die Folgen zum Beispiel haben sich unmittelbar ausgewirkt. Jedes zweite, dritte Gespräch kreiste in dieser Zeit um Corona. Dann kam der Krieg in der Ukraine und so weiter. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Nöte, die nicht von den aktuellen Ereignissen herrühren, sondern die sich seit Jahren und Jahrzehnten durchziehen.

Welche?
Zum Beispiel Einsamkeit. Es melden sich Menschen, die durch alle Betreuungsnetze durchgefallen sind, oder solche, die vermeintlich "austherapiert" sind. Ebenso viele junge Menschen, die vor den großen Entscheidungen im Leben stehen oder nach dem Sinn fragen.

Tobias Lehner: "Gerade junge Leute melden sich im Chat"

Sie haben Einsamkeit genannt. Wie oft rufen Menschen deswegen an?
Einsamkeit ist seit Jahren das Thema auf Platz 1 bei uns. Wir haben immer wieder Leute, die anrufen und sagen, sie haben seit zwei, drei oder mehr Tagen mit keinem Menschen mehr gesprochen. Es sind im Übrigen nicht immer Menschen im letzten Drittel des Lebens, sondern auch solche, die mitten im Leben stehen. Die sprechen natürlich schon mit Menschen an der Schule, in der Uni, im Job. Aber sie sprechen nicht über das, was ihnen auf dem Herzen liegt. Also Menschen, die sich trotzdem einsam fühlen, obwohl sie mitten unter Menschen sind. Gerade Junge melden sich auch im Chat, um diese Einsamkeit aufzubrechen.

Gibt es Unterhaltungen, die selbst Ihnen noch nachhängen?
Ich verfüge Gott sei Dank über die Fähigkeit, dass vieles von mir abfällt und ich es zurücklassen kann, wenn mein Dienst zu Ende ist und ich die Diensträume verlasse. Aber es gibt auch besonders berührende Gespräche, etwa mit bedrückenden Themen oder aber auch, wenn mir die Menschen viel Vertrauen geschenkt haben. Oder wenn es gelungen ist, dass der Anrufende sogar gelacht hat. Wenn es etwas Belastendes ist, das danach noch mehrere Tage wieder auftaucht, ist es für mich auch ein Zeichen: Nimm es mit in die Supervision. Alle Mitarbeitenden bei der Telefonseelsorge werden begleitet, es gibt regelmäßige Gespräche mit Fachkräften zum Austausch. Das hilft sehr, um sich selbst zu entlasten.

Es gibt also durchaus auch Erfolgserlebnisse, wenn ein Anrufer in einem Gespräch einen Grund zum Lachen findet?
Viele! Erfolge lassen sich in dem Bereich schlecht messen, aber Unterschiede schon. Wenn sich jemand ganz ruhig meldet, depressiv ist, die Wohnung nicht mehr verlassen kann, und man im Laufe des Gesprächs spürt, dass sich der Mensch lockert, er lächelt und man gemeinsam lacht – dann macht das doch einen entscheidenden Unterschied. Das sind schöne, motivierende Momente, die mir zeigen, es hat Sinn ergeben, dass ich vier Stunden am Telefon gesessen bin.

"Ein Raum, in dem Freiheit und ein Aufatmen spürbar werden"

Vier Stunden am Stück?
Ja, eine Schicht dauert bei uns vier Stunden, eine Nachtschicht in der Regel acht Stunden. Man wird in der Ausbildung darauf vorbereitet und es gibt zudem am Anfang Hospitanzen mit erfahrenen Telefonseelsorgern.

Wie schaffen Sie es denn, dass jemand lächelt oder gelöster wirkt, der vorher möglicherweise depressiv klang?
Als Theologe sage ich jetzt: Das ist Gnade. Auch wenn es ein veraltetes Wort ist, ich mag es sehr. Natürlich muss ich mit der Gnade auch zusammenarbeiten, meine Fähigkeiten sind schon gefordert: offene Fragen stellen, empathisch sein, verschiedene Dinge anbieten, versteckte Ressourcen herauskitzeln. Aber manchmal entsteht in der Interaktion einfach ein solcher Raum, in dem Freiheit und ein Aufatmen spürbar werden. Das kann man nicht beschreiben. Deswegen: Gnade.

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Welche Fähigkeiten sollte man mitbringen, wenn man dieses Ehrenamt ergreifen möchte?
Das Wichtigste ist die Verschwiegenheit. Die Anrufer bleiben anonym, aber auch ihre Themen sollen nicht bei der Familie daheim am Frühstückstisch diskutiert werden. Das Zweite: die psychische Belastbarkeit. Es werden belastende Themen angesprochen, vielleicht auch solche, die ich selbst in meinem Leben schon erfahren habe. Zur Ausbildung gehört deswegen auch, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Als Drittes bedarf es eines gewissen zeitlichen Freiraums, die Ausbildung dauert insgesamt ein Jahr. Nach der Ausbildung sollte man ungefähr 15 Stunden im Monat Zeit mitbringen für den Dienst, Supervision und Fortbildungen.

Telefonseelsorge der Erzdiözese München: "Es braucht Konstanz für so ein Engagement"

Es gibt in der Ausschreibung zu dem Engagement eine Altersbeschränkung: Interessierte sollten zwischen 25 und 68 Jahre alt sein. Warum?
Wir freuen uns über Menschen mit Lebenserfahrung, die vielleicht gerade auf dem Sprung in den Ruhestand sind oder die nach Ausbildung und Studium ein Ehrenamt suchen. Wir haben auch viele Ehrenamtliche, die älter sind, und sind sehr dankbar dafür. Für den Einstieg gibt es die grob umrissene Altersgrenze deshalb, weil die Ausbildung ein Jahr dauert und danach erwartet wird, dass man mindestens zwei Jahre dabei bleibt. Dazu kommt die Bereitschaft für Nachtschichten. Das setzt an die eigenen Kräfte bestimmte Anforderungen. Studierende befinden sich oft noch in Entscheidungsphasen, ziehen möglicherweise wieder weg. Es braucht auch Konstanz für so ein Engagement.

Wer die kostenlose Ausbildung mitmacht, sollte am Ende mindestens zwei Jahre Telefonseelsorge übernehmen. Wenn man mittendrin aber merkt: Das ist doch nichts für mich?
Wir zwingen natürlich niemanden, dabei zu bleiben. Schon im Vorfeld kann man sich bei den Infoabenden völlig frei informieren, ob man es sich vorstellen kann. Interessierte füllen einen Fragebogen aus und dann findet ein Auswahlverfahren statt. Wir suchen Menschen, die zu uns passen, aber auch für sie soll es passen. Viele Ehrenamtlich sind oft schon jahre- oder jahrzehntelang dabei. Wir begleiten den Dienst sehr intensiv. Niemand wird alleingelassen oder muss alles können.

Tobias Lehner: "Wer bin ich, zu wissen, wie das Leben anderer Menschen zu laufen hat?"

Man weiß vorher nie, wer anruft. Kommt man da nicht unter Druck, spontan immer die richtige Antwort, die richtige Reaktion parat haben zu müssen?
Das Erste ist: zuhören und Verständnis schenken, nachfragen: Was brauchst du gerade? Wir sind keine Ratschlagfabrik. Das ist sehr wichtig. Wir bieten eine qualifizierte Begleitung an, aber wir sind uns auch der Grenzen bewusst. Ich habe in der Ausbildung gelernt: Ratschläge können auch Schläge sein. Wer bin ich, zu wissen, wie das Leben anderer Menschen zu laufen hat? Wir vertrauen darauf, dass die Antwort, der nächste Schritt bei der- oder demjenigen liegt, der anruft. Das ergibt sich im Gespräch. Ich muss nicht alles wissen, ich muss und darf nichts diagnostizieren. Schon der Kontakt, das offene Ohr, kann trösten und heilsam sein, eben einen Unterschied machen.

AZ-Interview mit Tobias Lehner: Der Diplom-Theologe und Journalist (41) aus München ist mittlerweile hauptamtlich bei der Telefonseelsorge in der Erzdiözese München und Freising tätig. Begonnen hat er vor Jahren ehrenamtlich.


Infoabende: Im Juni an drei Orten

Die Telefonseelsorge in der Erzdiözese München und Freising sucht aktuell neue Ehrenamtliche für den Dienst am Telefon sowie in der Chat- und Mailberatung an den drei Dienststellen München, Bad Reichenhall und Mühldorf am Inn.

Die zwei letzteren heben die Erzdiözese und auch Tobias Lehner hervor, denn es sei gerade im ländlichen Raum schwieriger, Ehrenamtliche zu finden. Denn dort seien viele Menschen schon anderweitig engagiert, sei es in der Pfarrei, bei der Feuerwehr oder ähnliches, so Lehner zur AZ.

Im Juni werden an allen drei Orten Informationsabende angeboten, die einen Einblick in die Tätigkeit und die Ausbildung ermöglichen. Die Termine: jeweils am Dienstag, 20. Juni, von 18.30 bis 20.30 Uhr (München: Landwehrstraße 66; Bad Reichenhall: Anton-Winkler-Straße 10, Mühldorf: Kaiser-Ludwig-Straße 15); in München gibt es zusätzlich einen Termin am Dienstag, 13. Juni, zur gleichen Zeit, teilt die Diözese mit.

Der nächste Ausbildungskurs startet demnach Anfang Oktober und dauert bis Mitte Juli 2024. Er umfasst der Erzdiözese zufolge fünf Wochenenden in einem Bildungshaus, zehn Fachabende, die online von zu Hause aus absolviert werden können, rund 20 begleitete Hospitationen mit erfahrenen Seelsorgerinnen und Seelsorgern am Telefon und im Chat sowie Supervisionen zur Nachbesprechung der ersten Erfahrungen.

Interessierte an den Infoabenden werden um Anmeldung gebeten unter: telefonseelsorge@eomuc.de


Menschen in Not erreichen die Telefonseelsorge unter Tel. 0800-111 0 222 oder online online.telefonseelsorge.de

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