"Schlimmer als im Krieg": Die Flut und die Zerstörung
Deggendorf - Man kann die Katastrophe riechen. Schon auf der Autobahn. Es stinkt nach Öl - Öl aus hunderten Tanks, die das Hochwasser bei Deggendorf aus ihrer Verankerung gehoben und umgedreht hat. In Fischerdorf steht die braune Brühe auch am Sonntagmorgen noch über einen Meter hoch in den Straßen, die Oberfläche schillert in allen Farben des Regenbogens.
2500 Leute leben hier, ihre Häuser standen bis zu drei Meter hoch in den Fluten. „Das hier ist mindestens so schlimm, wie 2002 in Dresden“, sagt Philipp Wolf, der Einsatzleiter der Wasserwacht. Landrat Christian Bernreiter schätzt den Schaden in seinem Kreis auf „mindestens 500 Millionen Euro“. Hunderte Menschen haben alles verloren. Menschen, die jetzt dringend auf Spenden angewiesen sind – aus ganz Bayern.
Mit der Aktion „Münchner helfen“ möchte die Abendzeitung die Deggendorfer Hochwasser-Opfer unterstützen. Mit Ihrer Spende können Sie, liebe Leser, einen Beitrag dazu leisten.
Seit dem Wochenende weicht das Wasser in Fischerdorf langsam zurück. Überall laufen Pumpen, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk und Soldaten helfen zu entsorgen, was die Naturgewalt zerstört hat: Am Ortseingang stapeln sich klatschnasse Sofas, aufgequollene Schränke, zerbrochenes Porzellan, entwurzelte Bäume, kaputtes Spielzeug.
Xaver Fenzel (73) steht im Flur seines Bauernhauses, er ist blass. Der Hof wurde 1868 gebaut, jetzt ist die Stube mit zähem Schlick bedeckt. Die Möbel in den Zimmern sind umgestürzt. Auf einem Sessel liegt ein welliger Aktenordner mit zerfransten Dokumenten. Die Sofakissen haben den typischen Geruch der Katastrophe. „Es ist schlimmer als im Krieg“, sagt Fenzels Lebensgefährtin. Dann bricht sie in Tränen aus.
Andere Fischerdorfer haben noch keine Ahnung, was sie zuhause erwartet. Sie sitzen an der Bushaltestelle unter einem Schild mit der Aufschrift „Sammelstelle Boot“ und warten darauf, dass die Helfer sie zu ihren Häusern bringen. Etwa 1000 Menschen hätten sie bis heute transportiert, sagt Philipp Wolf von der Wasserwacht. Viele haben rotgeweinte Gesichter, wenn sie mit Plastiktüten voller Habseligkeiten von der Erkundungsfahrt zurückkommen. Andere müssen Stunden auf die Fahrt zu ihren Anwesen warten, weil immer wieder Gas-Alarm ausgerufen wird. Oder erst ein Techniker prüfen muss, ob die Solaranlage auf dem Dach nicht das gesamte Haus unter Strom gesetzt hat.
„Du kannst den Schmerz der Menschen hier förmlich spüren“, sagt Camille Abgrell, der belegte Brote, Spezi und Apfelschorle an die Wartenden verteilt. „Die meisten stehen völlig unter Schock.“ Camille kommt aus Frankreich und ist Mitglied der humanitären Organisation „The Art of Living“. Seit Samstag hilft er in Deggendorf, wo er nur kann. Erst hat er gespendete Kleidung nach Größen sortiert, jetzt kümmert er sich um die Menschen an der Sammelstelle. Noch bis Dienstag will er weitermachen.
Ein paar Meter weiter beginnt Fischerdorfs „Automeile“ - oder das, was davon übrig geblieben ist: Auf den Parkplätzen der örtlichen Pkw-Händler – BMW, Ford, Jaguar - stehen hunderte Wracks bis zu den Achsen in der schlierigen Bracke. Bei manchen haben die Fluten den Kofferraumdeckel aufgesprengt, bei anderen die Fenster eingedrückt. Was letzte Woche noch ein teurer X5 war, ist jetzt ein triefender Haufen Schrott.
„Die 500 Millionen werden nicht reichen“, sagt Philipp Wolf in Anspielung auf die Schadensschätzung des Deggendorfer Landrats. „Es ist einfach erschütternd, mit welcher Wucht die Flut hier gekommen ist. Da wurden etliche Existenzen vernichtet. Manche Leute hatten nicht einmal mehr Zeit, ihr Auto aus der Garage zu holen.“
Als Josef Pfeffer Dienstagfrüh vor dem Wasser floh, musste er schweren Herzens seinen Terriermischling „Sissi“ zurücklassen. „Ich hab den Hund einfach nicht gekriegt. Der mag Wasser sowieso nicht und hat so eine Angst gehabt“, erzählt der alte Mann. „Ich hab' der Sissi noch die Tür zur Wohnung im ersten Stock aufgemacht, damit sie rauf kann. Dann musste ich weg.“ Sechs Tage lang bangte er um die Hündin, gestern durften er und sein Neffe mit dem Boot zurück ins Haus. Bei seiner Rückkehr trägt Josef Pfeffer „Sissi“ auf dem Arm. Sie ist völlig durch den Wind, aber sie lebt. „Sie hat mich vor lauter Schreck erst gar nicht erkannt.“ Eine Veterinärin der Tierrettung Rhein-Nekar untersucht den zitternden Hund. „Sie scheint alles gut überstanden zu haben“, sagt die Expertin. „Sie müssen ihr nur noch das Öl von den Pfoten spülen und ihr viel frisches Wasser zu trinken geben“, erklärt sie dem Besitzer. Ein Nachbarsbub streichelt dem kleinen Hund übers Fell. „Mei Sissi, gut, dass du gerettet bist. Wir haben uns doch alle Sorgen um dich gemacht.“ Er lächelt. Zum ersten Mal an diesem Tag.