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Kontaktverfolgung per Gastro-Listen? Staatsregierung ohne Überblick

Eine FDP-Anfrage zeigt: Wie oft Adresslisten aus der Gastronomie von den Gesundheitsämtern in Bayern angefordert werden, weiß die Staatsregierung nicht.
von  Natalie Kettinger
Ein Ordner voller Kontaktlisten liegt auf dem Tresen einer Kneipe. Einen Monat lang müssen die Daten aufgehoben werden.
Ein Ordner voller Kontaktlisten liegt auf dem Tresen einer Kneipe. Einen Monat lang müssen die Daten aufgehoben werden. © Marijan Murat/dpa

München - Sie waren bis zum Teil-Lockdown zwingender Bestandteil jedes Hygienekonzeptes in der Gastronomie und werden es bei einer Öffnung sofort wieder sein: Kontaktlisten, auf denen die Besucher Name und Telefonnummer eintragen müssen.

Wehe dem, der sich Donald Trump oder Mickey Mouse nennt - Falschangaben werden mittlerweile mit einem Bußgeld von 250 Euro geahndet. Achtet ein Wirt oder Hotelier nicht darauf, dass Corona-Infektionsketten bei Bedarf nachverfolgt werden können, drohen sogar bis zu 1.000 Euro Bußgeld.

Verstöße gegen die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung seien alles andere als ein "Kavaliersdelikt", hatte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Strafen im Sommer gerechtfertigt.

Anzahl der Zugriffe auf Gästelisten unbekannt

Umso mehr erstaunt nun Folgendes: Die Staatsregierung hat offensichtlich keine Ahnung, wie oft besagte Listen aus der Gastronomie von den 71 staatlichen und fünf kommunalen Gesundheitsämtern in Bayern tatsächlich herangezogen wurden, um Infektionsketten nachzuverfolgen und Menschen ausfindig zu machen, die sich bei einem Restaurantbesuch womöglich mit Sars-CoV-2 angesteckt haben.

Das geht aus einer Antwort des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege (StMGP) auf eine Anfrage von FDP-Fraktionschef Martin Hagen hervor, die der AZ vorliegt. Darin heißt es wörtlich: "In wie vielen Fällen (...) auch auf Gästelisten zurückgegriffen wurde, ist dem StMGP nicht bekannt." Auf eine differenzierte Abfrage der Gesundheitsämter sei aufgrund der pandemiebedingt hohen Arbeitsbelastung der Gesundheitsverwaltung verzichtet worden, "zumal über die Abfrage bzw. Weitergabe der Gästelisten keine gesonderten Erhebungen vorgenommen werden".

Hat nachgefragt: Martin Hagen, Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion.
Hat nachgefragt: Martin Hagen, Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion. © dpa

Unbeantwortet blieben daher auch die Fragen des Liberalen, wie viele Kontaktpersonen über die Listen ermittelt werden konnten, wie viele daraufhin ebenfalls positiv auf das Coronavirus getestet wurden - und wie oft falsche Angaben gemacht wurden.

In zwei Fällen, bei denen Corona-Infektionen in Lokalen durch die Medien bekannt geworden waren, fragte Hagen konkret nach, wie viele Gäste mithilfe der Listen informiert worden seien. Im ersten Fall - betroffen war ein Restaurant im Landkreis Starnberg - kam die Datensammlung gar nicht zum Einsatz: Eine Ermittlung von Gästen sei nicht erforderlich gewesen, teilt das Haus von CSU-Ministerin Melanie Huml mit, "da die Indexpersonen (...) ausschließlich in der Küche tätig waren und zu den Gästen keinen Kontakt hatten".

 

Anders verhielt es sich allerdings bei einem Ausbruch im Kreis Mühldorf am Inn, wo sich offenbar eine Servicekraft angesteckt hatte. Zwar seien alle anwesenden Gäste dort Kontaktpersonen der Kategorie 2 gewesen, beim Kassieren habe kein längerer Kontakt der "Indexperson" mit anderen bestanden und die "Indexperson" habe dabei auch durchgehend Maske getragen, schreibt das Ministerium. Das Gesundheitsamt habe aber dennoch versucht, mit allen Gästen an den 33 Tischen Kontakt aufzunehmen. Bei zwei Tischen sei die angegebene Nummer jedoch unvollständig gewesen.

Keine Auskunft, ob Gästelisten zur Kontaktnachverfolgung beitragen

So weit, so wenig - zumal, wenn man bedenkt, dass Humls Haus für die Beantwortung der Anfrage acht Wochen gebraucht hat, was exakt dem Doppelten des üblichen Zeitrahmens entspricht.

"Ich halte das für hochgradig problematisch", sagt denn auch FDP-Fraktionschef Hagen. "Die Regierung führt im Mai diese Gästelisten ein und kann ein halbes Jahr später keine Auskunft darüber geben, inwieweit sie zur Kontaktnachverfolgung beitragen." Das sei ein grundlegendes Defizit der bayerischen Coronapolitik: "Es findet keine Dokumentation und keine Evaluierung statt. Schon im September kam heraus, dass das Gesundheitsministerium keine Akten über seine Corona-Entscheidungen führt. Im Oktober ergab eine Anfrage der Grünen, dass die Staatsregierung keine detaillierte Auskunft darüber geben kann, welche gesellschaftlichen Bereiche wie stark von Infektionen betroffen sind. Und jetzt das…"

Darüber, wie oft die Polizei im Freistaat auf die Kontaktlisten aus der Gastronomie zugreift, konnte die Staatsregierung im Sommer übrigens sehr wohl Auskunft geben. Damals zählte das Innenministerium, ebenfalls auf eine FDP-Anfrage hin, bis Ende Juli 24 Fälle auf, in denen Ermittler die Daten abgefragt hatten. Für Ärger sorgte, dass dies auch bei mindergravierenden Delikten geschehen war.

Es sei schon bemerkenswert, sagt Martin Hagen, dass sich im Vergleich zum sehr detailliert informierten Ministerium von Joachim Herrmann (CSU) ein so deutliches Gefälle zum Informationsstand des Huml-Ressorts ergebe. "Ich habe das Gefühl, das Gesundheitsministerium ist mit der Situation überfordert. Doch ein Dreivierteljahr nach Ausbruch der Pandemie sollten wir uns bei der Eindämmungsstrategie nicht mehr von Bauchgefühl, sondern von Daten und Fakten leiten lassen!"

Dass diese selbst dann nur spärlich fließen, wenn man intensiv nachbohrt, hatte Anfang Oktober auch eine AZ-Recherche beim Referat für Gesundheit und Umwelt in München ergeben. Damals wurde mitgeteilt, seit dem 25. Mai seien im Stadtgebiet gerade Mal 30 Namenslisten zur Kontaktverfolgung angefordert worden.

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