Kinder und Jugendliche während Corona: "Das ganze Leben findet nicht statt"
München - Matthias Fack im AZ-Interview: Der 48-Jährige ist seit 2011 Präsident des Bayerischen Jugendrings.
AZ: Herr Fack, es heißt oft, Kinder verbreiten Corona an Schulen, Jugendliche mit ihren rücksichtslosen Partys. Sehen Sie das genauso?
Matthias Fack: Die Vorwürfe stimmen nicht! Natürlich sind auch Schulen von der Pandemie betroffen. Wegen der weniger schweren Krankheitsverläufe bei Kindern und Jugendlichen ist aber mehr Differenzierung nötig. Bei den angeblich rücksichtslosen Jugendlichen sage ich deutlich: Das ist nicht richtig. Ich würde mir bei diesem Thema von der Medienlandschaft mehr Sensibilität wünschen.
Woher kommen die Schuldzuweisungen?
Junge Menschen müssen oft als Sündenböcke für die Probleme unserer Gesellschaft herhalten - irgendwer muss ja verantwortlich gemacht werden. Manche Aussagen von Erwachsenen klingen, als ob sie selbst nie jung gewesen wären. Natürlich leiden Kinder und Jugendliche unter der sozialen Distanz. Gerade in dem Alter brauchen sie andere junge Menschen, um sich zu entwickeln, sich selbst zu reflektieren und die Welt zu entdecken.
Was macht es mit jungen Menschen, wenn die Abifeier ausfällt, auf die man sich sein ganzes Schulleben gefreut hat? Wenn die Erstsemesterparty in der neuen Stadt nur online stattfindet? Es keine Geburtstagsparty gibt und man sich nicht mit Freunden zum Tanzen und Flirten treffen kann?
Das ist es ja: Das ganze Leben findet nicht statt. Dabei wäre es die Zeit, in der die Weichen für das Leben in Selbstständigkeit gestellt werden. Wenn die jungen Menschen das im Gegensatz zu anderen Generationen nicht machen können, entstehen tiefe Ratlosigkeit und existenzielle Verunsicherung. Es gibt erst wenige Studien zu dem Thema. Meine These ist aber: Wir haben es mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die unter erschwerten Bedingungen aufwachsen, weil wir sie über Wochen und Monate nicht begleiten und stärken können.

"Kinder sind mehr als Objekte, die verwahrt werden müssen"
Im Sommer konnten sich Erwachsene wieder in Restaurants treffen, während viele Jugendzentren noch geschlossen oder nur stark eingeschränkt geöffnet waren. Misst die Politik mit zweierlei Maß?
Ja, die Gefahr besteht. Allerdings möchte ich auch sagen, dass Bayern noch am besten versucht hat, neben der Schule auch die soziale Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Bereits in den Pfingstferien wurden unsere Forderungen aufgegriffen und die Jugendarbeit unter Auflagen wieder hochgefahren. Was mich in der aktuellen politischen Debatte besonders stört, ist der institutionelle Blick auf Kinder und Jugendliche: Sie sind mehr als nur Objekte, die in Schule oder Kita aufbewahrt werden müssen. Sie brauchen Räume, in denen sie als Menschen gehört und beteiligt werden. Dieser Aspekt kommt viel zu kurz.
"Das Programm in den Sommerferien war ein voller Erfolg"
Für Jugendliche unter 18 Jahren gab es schon vor Corona wenig Ausgehmöglichkeiten. Nach der ersten Welle wurde zusätzlich der öffentliche Raum für sie gesperrt. Viele wohnen noch bei ihren Eltern. Wo sollen sie denn hin?
Im außerschulischen Bereich gibt es da viele Möglichkeiten. Trotz der Infektionsschutzmaßnahmenverordnung kann Jugendarbeit verantwortungsvoll stattfinden. Auch Jugendbildungsstätten, Jugendübernachtungshäuser und Jugendherbergen verfügen über Konzepte, die die Ansteckungsgefahr minimieren. Sie werden aber zu Unrecht mit Hotels gleichgesetzt.
Sie haben im Sommer mit dem Kultusministerium ein Programm zur Ferienbetreuung in Corona-Zeiten aufgelegt. Wie lässt sich das im Lockdown umsetzen?
Das Programm in den Sommerferien war ein voller Erfolg. In den Herbstferien wurde es schwieriger, weil es kälter wurde. Teilweise mussten leider Angebote ausfallen, weil keine geeigneten Räume zur Verfügung standen. Ich habe keinerlei Verständnis dafür, wenn Turnhallen in den Ferien geschlossen bleiben und nicht für Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung stehen. Die Verantwortlichen vor Ort hatten ausreichend Zeit, sich auf einen Herbst mit Corona vorzubereiten - passiert ist häufig nichts. Alles kann die Jugendarbeit nicht alleine wuppen.
"Was früher schon schwierig war, wird jetzt noch schwieriger"
Internationaler Jugendaustausch fördert nachweislich Selbstvertrauen, soziale Kompetenzen und Weltoffenheit. Was bedeutet es, wenn das nicht möglich ist - sowohl für die jungen Menschen als auch für die Einrichtungen?
Beide Aspekte sind zentral. Wie sich der Jugendaustausch entwickelt, ist desaströs. Die jungen Menschen fiebern oft jahrelang auf ihre Auslandsreise hin - und können jetzt nicht weg. Bei vielen war das die letzte Möglichkeit, weil sie nach der Krise zu alt sein werden. Bei den Einrichtungen hat der bayerische Staat schneller begriffen, dass Rettungsschirme auch auf den gemeinnützigen Bereich ausgedehnt werden müssen. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern werden sie zumindest unterstützt. Zusätzlich soll es Finanzhilfen vom Bund geben. Aber ob und wie das mit den bayerischen Hilfen verrechnet wird, ist derzeit noch offen. Anfang nächsten Jahres droht alles wieder Spitz auf Knopf zu stehen.
Rund 320.000 junge Menschen in Bayern sind laut Jugendmonitor 2020 von Jugendarmut betroffen - das ist jede fünfte Person und mehr als bei jeder anderen Altersgruppe in Deutschland. Wie muss gegengesteuert werden?
Das Leben junger Menschen zeigt unter dem Brennglas, was in unserer Gesellschaft los ist - und Corona ist noch mal ein Brennglas obendrauf. Was früher schon schwierig war, wird jetzt noch schwieriger - zum Beispiel die Wohnraumsituation in Städten. Kinder und Jugendliche aus prekären Eigentumsverhältnissen werden von Corona doppelt abgehängt: Sie können sich nicht mit Freunden treffen und müssen sich beim Homeschooling mit ihren Geschwistern einen Computer teilen. Die Schulpolitik hat lange verschlafen, sich um die technische Ausrüstung zu kümmern.
"Jugendliche wählen weniger extrem als andere Altersklassen"
Bei der Kommunalwahl in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen oder Hamburg dürfen 16- und 17-Jährige wählen, bayerische Jugendliche hingegen hatten bei der Wahl im März keine Stimme. Dabei zeigt sich nicht nur bei Fridays for Future, wie sehr sich junge Menschen für demokratische Teilhabe interessieren.
Vielleicht vertraut die Politik in Bayern ihrem eigenen Bildungssystem doch nicht ganz. Aber im Ernst: Ich habe kein Verständnis dafür, dass beim Wahlalter noch nichts passiert ist. Selbst das EU-Parlament hat die Mitgliedstaaten aufgerufen, über eine Altersabsenkung nachzudenken. Eines der häufigsten Gegenargumente ist, Jugendliche würden extrem wählen. Unsere U18-Wahlen zeigen aber, dass Jugendliche sogar weniger extrem wählen als andere Altersklassen. Außerdem fordern wir von der Politik einen Jugendcheck bei Gesetzen. Das heißt, bei jedem Gesetzesvorhaben muss geprüft werden, welche Folgen es für Kinder und Jugendliche hat.
Sie streben selber in die Politik und haben im Ostallgäu für die Freien Wähler als Landrat kandidiert. Die Wahl ging zwar verloren, aber Sie konnten einen Achtungserfolg verbuchen. Motiviert oder demotiviert Sie das?
Sagen wir so: Ich bin ja auch in meinem Amt als BJR-Präsident politisch aktiv. Aber klar, die Kommunalpolitik ist ein eigenes Feld. Ich sitze jetzt für die Freien Wähler im Kreistag. Wenn ich für etwas einstehe, trage ich auch Verantwortung und gestalte mit. Ich bleibe also ein politischer Mensch. Ich weiß aber noch nicht, wohin mich die Reise führen wird.
Wie beurteilen Sie die Situation von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise, liebe Leserinnen und Leser? Schreiben Sie uns an leserforum@az-muenchen.de oder in die Kommentare unter diesem Artikel.
- Themen:
- Europäisches Parlament
- Freie Wähler