Ignoriert Bayerns Politik seltene Krankheiten?

München - "Wir sitzen hier, weil wir verzweifelt sind": Normalerweise haben Besucher im Landtag kein Rederecht, aber bei der Expertenanhörung des Gesundheits- und Wissenschaftsausschusses zum Thema "Seltene Erkrankungen" waren so viele wütende Betroffene anwesend, dass stellvertretend ihrer Patientenvertreterin Anne Goldbeck kurzfristig das Wort erteilt wurde. Viele Kinder erleben ihren 18. Geburtstag nicht, weil die Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten zu lange vernachlässigt wurde. "Tut endlich was", rief sie den Landtagsabgeordneten zu.
Drei bis vier Millionen Deutsche sind von einer der rund 8.000 seltenen Krankheiten betroffen – vor allem Kinder. In Bayern gehen Experten von über 500.000 Menschen aus. Als selten gilt eine Krankheit, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen das Krankheitsbild aufweisen. Die bekanntesten Beispiele sind Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die "Glasknochen-Krankheit" oder Mukoviszidose. Da die Therapien besser werden, werden die jungen Patienten immer älter – heilbar sind die meisten Krankheiten aber bisher nicht.
In Krankenhäuser fehlt es oft an Kapazitäten
Professor Wolfgang Rascher vom Universitätsklinikum Erlangen wies auf die Fortschritte in Bayern hin. An fünf Unikliniken im Freistaat gebe es bereits Dachzentren für seltene Krankheiten. Aber auch dort findet sich nicht für jedes Krankheitsbild ein Experte. Und selbst wenn, mangelt es häufig an Kapazitäten, die Patienten aufzunehmen. In Erlangen standen laut Chef des Mukoviszidose-Verbands, Stephan Kruip, 80 Patienten auf der Straße.
"Ganz viele Menschen berichten uns von einer unzureichenden Versorgungssituation", sagte Dr. Christine Mundlos vom Beratungsnetzwerk Achse. Während in den USA oder Frankreich große Netzwerke existierten, bliebe in Deutschland der Datenaustausch oft dem Zufall überlassen. Viele Ärzte erkennen seltene Krankheiten auch einfach nicht. Die Folge: Bis zu einer Diagnosestellung haben Patienten oft eine jahrelange Odyssee hinter sich.
Unterstützung von der Politik fehlt
Das Bundesgesundheitsministerium will jetzt zwar mehr Geld bereitstellen, um eine vernetzte Versorgungsstruktur aufzubauen und so trotz der geringen Fallzahlen genug Daten für eine statistische Auswertung sammeln zu können. Achse-Chefin Mundlos wartet aber schon seit 2013 auf die Umsetzung dieses Aktionsplans. Bisher seien die bundesweit rund 30 Zentren für seltene Erkrankungen nur unzureichend miteinander vernetzt.
Ohne finanzielle Unterstützung seitens der Politik wird es aber nicht gehen. "Für die Industrie ist die Entwicklung von Therapien nicht von Interesse", erklärte der Münchner Klinikumsdirektor, Professor Karl-Walter Jauch. Mit seltenen Krankheiten lasse sich eben kein Geld verdienen. Es gebe zwar einige Stiftungen, aber damit sei der Kampf nicht zu gewinnen. Jauch plädierte für staatliche Hilfsfonds.
"Wir müssen endlich die menschenwürdige Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen sicherstellen", so Gesundheitsausschuss-Chef Bernhard Seidenath (CSU). "Rund ein Drittel der erwachsenen Patienten wird in der Pädiatrie behandelt – diese Situation ist für die Betroffenen unzumutbar", klagte Susann Enders (Freie Wähler). Andreas Krahl (Grüne) kritisierte, dass es zu wenig Pflegepersonal für diese Patienten gebe und ihnen mangels Forschung häufig das Wissen fehle. "Dabei sind es sie, die im direkten Kontakt mit den Patienten stehen."
Lesen Sie auch: Mutter sperrt Kind aus Versehen im heißen Auto ein