"Nichts und niemandem mehr trauen": Münchner Forscher warnt

Hören Sie auch oft, Sie sollten aufpassen? Das kann das Gegenteil bewirken - wie jetzt an der LMU in München sogar wissenschaftlich bestätigt worden ist.
Ralf Müller |
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Vor allem über Soziale Medien werden wir oft mit Warnungen konfrontiert. Das führt bei vielen Menschen zu Überforderung.
Vor allem über Soziale Medien werden wir oft mit Warnungen konfrontiert. Das führt bei vielen Menschen zu Überforderung. © Anastasiia Torianyk/Zoonar/imago

München - Wir sind gewarnt: vor Amokfahrern, Messerstechern, falscher Ernährung und Klimakollaps, ionisierenden Strahlen und Schadstoffen, vor Putin und Trump, Viren und Epidemien.

Die ständigen Warnungen und Aufrufe zur Wachsamkeit können aber auch das Gegenteil bewirken, sagt Arndt Brendecke, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München und Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Vigilanzkulturen". Der permanente Aufruf zu mehr Wachsamkeit könne die Bürger überfordern und zu einer Einstellung führen, "nichts und niemandem mehr zu trauen".

Brendecke ist kein Psychologe oder Sozialwissenschaftler, sondern Historiker. Der Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der LMU untersucht in seinem Sonderforschungsbereich mit Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen "Fragen der Aufmerksamkeit".

Die Zeitspanne reicht vom Assyrischen Reich bis in die Gegenwart. In Teilprojekten werden zum Beispiel die Durchsetzung der Kleiderordnung im Mittelalter und die Veränderung der Wachsamkeit durch Drohnentechnologie in Amazonien betrachtet.

Unerwünschte Nebenfolgen

In der modernen Gesellschaft komme der Wachsamkeit eine besondere Rolle zu. Zwischen Fake News, Corona und Terrorgefahr ändere sich die Bedrohung, auf welche die Bürger ihre Wachsamkeit lenken sollen, ständig, sagt Brendecke. Die Themen seien zwar immer wieder neu, aber das Muster das gleiche. Aufrufe zur Wachsamkeit könnten gut gemeint sein, hätten aber häufig unerwünschte Nebenfolgen oder bewirkten sogar das Gegenteil von dem, was beabsichtigt ist.

Verschiedene Apps von Sozialen Netzwerken auf einem Handy: Hier beschleunigen sich Fake News besonders schnell.
Verschiedene Apps von Sozialen Netzwerken auf einem Handy: Hier beschleunigen sich Fake News besonders schnell. © Christoph Dernbach (dpa)

Appelle zur dauerhaften Wachsamkeit überforderten Menschen, "schon weil wir nicht permanent aufmerksam sein können", so Brendecke. Andererseits ließen sie oft unbestimmt, worauf man genau achten sollte. Dann ließen sich alle möglichen Dinge unter die unbestimmte Gefahr einordnen.

"Es mag sogar zu einer resignativen Weltsicht beitragen"

Dabei gibt es Unterschiede zwischen früheren Jahrhunderten und der Jetzt-Zeit. Gerade heute mit unzähligen Medien und permanenten neuen, oft schrillen Informationen würden die kognitiven Fähigkeiten der Menschen überfordert.

Brendecke: "Es mag sogar zu einer resignativen Weltsicht beitragen, wonach nichts und niemandem mehr zu trauen ist."

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Bedeutender Auslöser für diese neue Welt des allgegenwärtigen Misstrauens ist nach Auffassung des Professors die Kunde von den "Fake News". Wenn pauschal von "Fake News" gesprochen werde, sei man an der Schwelle angelangt, ab der keine Nachricht mehr glaubwürdig ist, sagt Brendecke: "Ist aber erst einmal alles Fake, dann sind die Einfallstore für Manipulation am Ende noch größer. Das sieht man ja auch an der politischen Entwicklung."

"Wenn alles gefährdet ist, wird nichts getan"

Vigilanz (Wachsamkeit) kann nach den Erkenntnissen der Wissenschaftler auch selbst manipulativ sein, wenn sie mit Machtansprüchen unterlegt ist und über falsche Gefahren informiert. Gefahrenkommunikation sei "immer politisch", so Brendecke: "Sie kann auch zu einer geradezu paranoiden Überforderung führen, die den Bedarf nach einfachen Lösungen schürt."

Eine Politik, die stark auf Gefahrenkommunikation setzt und sich selbst als Lösung präsentiert, wird wissenschaftlich als "Fearmongering" bezeichnet. Ein Teil dieser Kommunikation arbeitet mit Verschwörungstheorien, die davor warnen, dass hinter allem etwas anderes steckt. Nichts ist dann mehr, wie es scheint, beschreibt der Wissenschaftler die Folgen.

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Die Kapazität, sich auf wirkliche und akut dringliche Gefahren zu konzentrieren, wird damit eingeschränkt: "Wenn alles gefährdet ist, mag das dazu führen, dass nichts getan wird."

Historiker: Aufrufe zu Wachsamkeit seien schlecht dosierbar

Wachsamkeitsaufrufe seien oft notwendig, aber schlecht dosierbar, ermittelten die Forscher. Die Aufrufe schaukelten sich mitunter hoch. Die Covid-19-Pandemie habe gezeigt, wie schnell sich Aufmerksamkeit verändern könne.

Schlagartig hätten Menschen etwa die Überschreitung des Mindestabstands im Supermarkt als fast tödliche Bedrohung wahrgenommen. Corona habe auch gezeigt, wie schnell Menschen bereit seien, andere zu denunzieren, wenn sie etwas nach neuen Regeln "falsch" machten, sagt Brendecke.

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20 Kommentare
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  • AufmerksamerBürger am 03.03.2025 15:02 Uhr / Bewertung:

    In Mannheim wurden die Warner nicht ernst genommen.
    Wozu auch, ist eh nur Panikmache.

  • Der Münchner am 04.03.2025 08:01 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von AufmerksamerBürger

    Warner können aber nix verhindern!
    Der Winter kommt trotzdem!
    Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?
    Diese Kinderwarnung ist nicht mehr erwünscht!

  • Wendeltreppe am 04.03.2025 09:43 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von AufmerksamerBürger

    Welche nicht ernst genommene "Warner" gab's denn in Mannheim ?

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