Charlotte Knobloch: Die Gesellschaft gewöhnt sich an rechtsextremen Terror
München - Die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau und seiner Außenlager gelang alliierten Truppen Ende April 1945. Viele der Außenlager des KZ Dachau waren zuvor durch die SS geräumt worden. Das Hauptlager befreiten Soldaten der 7. US-Armee am 29. April 1945, dabei kam es – nach dem Anblick der schrecklichen Zustände – auch zu einer Racheaktion gegen eine Gruppe von noch im Lager befindlichen letzten SS-Soldaten durch die Befreier.

Die Münchnerin Charlotte Knobloch (87) überlebte die Nazi-Zeit, weil sie als Kind von einer Hausangestellten ihres Onkels versteckt wurde. Sie ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.
AZ: Frau Knobloch, 53 Prozent der Deutschen sprechen sich "voll und ganz" oder "eher" dafür aus, einen "Schlussstrich" unter die NS-Vergangenheit zu ziehen, wie eine aktuelle Umfrage der Wochenzeitung "Die Zeit" ergab. Verstehen Sie Ihre nichtjüdischen Landsleute 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau durch die amerikanische Armee noch?
CHARLOTTE KNOBLOCH: In den 30 Jahren von 1980 bis 2010 hatte ich gedacht, dass es zu einer solchen Aussage nicht mehr kommen könnte. Aber seitdem hat sich mit dem Erstarken der AfD, die ganz offen und immer wieder jenen Schlussstrich gefordert hat, etwas geändert in Deutschland. Auf der anderen Seite: Ich hätte den Krieg wahrscheinlich nicht überlebt, wenn ich nicht vor den Nazis versteckt worden wäre. Und das haben auch ganz normale deutsche Menschen getan, die sich dabei in große Gefahr gebracht haben.
Junge Menschen sind heute gut vorbereitet
Sie haben viel mit jungen Menschen zu tun, wenn Sie in Schulen gehen und von Ihrem Schicksal und dem Schicksal der Juden während der Nazi-Zeit berichten. Geben Ihnen diese Begegnungen Hoffnung?
Ja, das tun sie. Vor 15, 20 Jahren war es noch so, dass viele Schüler eingeschlafen sind oder teilnahmslos in die Leere geblickt haben. Heute ist das vollkommen anders. Heute stehe ich jungen Leuten gegenüber, die forsch sind und auch provokative Fragen stellen. Sie sind gut vorbereitet. Da habe ich das Gefühl, es lohnt sich, solche Gespräche über die Vergangenheit zu führen und darüber aufzuklären, was Menschen Menschen antun können.
Was hielten Sie davon, wenn es für deutsche Schüler verpflichtend wäre, die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel zu besuchen – ein tief bewegendes Erlebnis?
Eine pädagogische Frage! Vor den Gedenkstätten und Dokumentationszentren kämen die Zeitzeugen, bei denen sich direktes Wissen abfragen lässt. Noch. Diese Ära geht zu Ende.

Zurück zur oftmals bedrückenden Realität im Deutschland von heute: Es gab Kassel, es gab Halle, es gab Hanau - drei rechtsradikale Anschläge innerhalb eines Jahres.
Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, bei dem nur wegen fehlender Sicherheitsvorkehrungen zwei Menschen ihr Leben verloren haben, haben wir ehrliches Mitgefühl und ehrliche Anteilnahme gespürt. Aber die Zeit heute ist so schnelllebig, und das Thema wurde wieder in den Hintergrund gedrängt. Die Gesellschaft gewöhnt sich an rechtsextremen Terror. Die Politik, unsere demokratischen Parteien sind als Gegenspieler der AfD leider immer noch zu oft überfordert. Man hat auch zu lange zugesehen, den Dingen ihren Lauf gelassen.
Sie haben als Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde intensiven Kontakt zu Ihren jüngeren Gemeindemitgliedern. Wie ist deren Wahrnehmung, spüren sie eine wachsende Gefahr für Juden?
Das sind Fragen, die an mich herangetragen werden. Vor allem junge Familien, bei denen sich die Eltern Gedanken machen, ob die Kinder in Deutschland noch eine Zukunft haben. Selbstverständlich sage ich denen, dass ich an die Politik in Deutschland glaube, dass ich an die Demokratie glaube. Aber andererseits hat die AfD mit ihren Aussagen schon viel Vertrauen zerstört. Ich fühle mich ein bisschen erinnert an das Ende der 20er Jahre, als man noch vieles hätte ändern können. Ich sage jungen Familie, dass es immer gut ist, für alle Fälle Vorkehrungen zu treffen, wenn man es kann. Sie sollen die Dinge gut beobachten, sie sind ja gescheit, und dann ihre Entscheidungen treffen.
Das klingt nicht überzeugt?
Das jüdische Leben in München hat doch geblüht, und man konnte sich als Jude eine Zukunft hier vorstellen. Wenn das jetzt zerbrechen sollte, täte mir das furchtbar weh. Viele erinnern sich jetzt an die warnenden Worte ihrer Eltern oder ihrer Großeltern.
Charlotte Knobloch über die Corona-Krise
Zur Corona-Krise, dem derzeit alles überlagernden Thema. Es gibt Menschen, die beklagen, dass in ihrer Folge zunehmend Bürgerrechte außer Kraft gesetzt werden. Ein Punkt, der Sie hellhörig machen müsste als jemand, der eine Zeit völliger Rechtlosigkeit erlebt hat?
Das ist ein großer Unterschied. Heute werden Bürgerrechte ausgesetzt, um den Menschen zu helfen und deren Gesundheit zu erhalten. Im Judentum gibt es ein Gesetz, das lautet: Wo du auch bist, du sollst das Gesetz deiner Stadt achten. Auf die Corona-Krise bezogen hieße das: Die Gesundheit geht vor allem anderen, zumindest hier und in dieser Zeit. Es gibt Länder, in denen es anders lief, in denen man zu lange zugesehen hat. Was hätten wir davon, wenn die Bürgerrechte geachtet würden, die Menschen aber stürben? Das wäre keine Alternative, sondern nur unverantwortlich. Ich habe hier großes Vertrauen in die Politik.
Seit Corona in den Köpfen der Menschen ist, kommt es verstärkt zu antisemitischen Vorfällen, bei denen der Ausbruch der Pandemie den Juden in die Schuhe geschoben wird. Kein ganz neues Phänomen?
Nein, weiß Gott nicht. Im Mittelalter hat man Juden verfolgt, weil sie angeblich die Pest verbreitet haben. Jetzt sollen sie schuld an Corona sein. Fatal daran ist, dass es wirklich Leute gibt, die das glauben.
Noch eine letzte Frage zu Dachau. Sie sind in München aufgewachsen. Wie sind Ihre Erinnerungen?
Ich bin als Einzelkind zu großen Teilen im Büro meines Vaters, eines Anwalts, aufgewachsen. Da habe ich schon sehr früh mitbekommen, dass Dachau ein Ort der Angst, ein Ort des Schreckens ist.
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