Neue Dokumentation: Angela Merkel und der Rest der Welt
Nach "Angela Merkel - Die Unerwartete" von 2016 beschäftigt sich Autor und Filmemacher Torsten Körner in "Angela Merkel - Im Lauf der Zeit" erneut mit der Ex-Kanzlerin und kommt der "Distanzkünstlerin" sehr nahe. Basis sind zwei ausführliche Interviews mit ihr zwei Tage vor der Vereidigung von Olaf Scholz, kaum bekanntes Archivmaterial und Diskussionen mit Wegbegleitern, politischen Beobachtern und internationaler Politprominenz.
AZ: Herr Körner, was bewegte Sie zu einer weiteren Dokumentation über Merkel?
TORSTEN KÖRNER: Es ist einige Zeit vergangen und etliche Krisen sind dazu gekommen, Angela Merkel ist zum vierten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt worden, insofern gab es viel neuen Erzählstoff, der auch den Blick auf Angela Merkel verändert hat. Von daher finde ich es immer reizvoll, ein Porträt über Angela Merkel zu drehen, zumal der Film von 2016 sich stark auf die Flüchtlingspolitik fokussierte. Jetzt ging es darum, noch einmal ihre gesamte Biografie ins Auge zu fassen.
"Mit Angela Merkel geht es um eine Ikone der deutschen Geschichte"
Was mögen Sie so an ihr, dass Sie nicht von ihr loskommen?
Wenn man sich mit Angela Merkel beschäftigt, beschäftigt man sich mit der ganzen Welt. Da geht es nicht nur um eine Privatperson, sondern um eine Ikone der deutschen Geschichte. Und diese Ikonen sind doch sehr komplexe Persönlichkeiten, in denen sich deutsche Geschichte und Mentalitäten widerspiegeln. Bei der Auseinandersetzung mit Merkel muss ich darüber nachdenken, wie Deutschland verfasst und wie die ganze Welt verfasst ist, wie die Welt Deutschland sieht. Deshalb wird es mir mit Angela Merkel nicht langweilig.
Und warum ein Film so kurz nach Ihrem Abschied?
Ich habe mich einerseits von meinen Interessen treiben lassen und andererseits bewusst darauf geachtet, mich von allen vorangegangenen Merkel-Porträts zu unterscheiden. Es gab in letzter Zeit eine Unzahl von Merkel-Porträts im Fernsehen. Dies ist der erste Merkel-Film, der auf einen Off-Kommentar verzichtet. Zuschauer und Zuschauerinnen müssen die Figur oder den Film selbst einordnen und sich ein Urteil bilden, können sich als Zeitzeugen verstehen. Es gibt ja durchaus eine Reihe von kritischen wie auch lobenden Stimmen im Film.
"Mit diesem Film will ich eine subjektive Erzählung ermöglichen"
Es sind weniger Männer, die Stellung nehmen, als Frauen - wie die Virologin Melanie Brinkmann, die Soziologin Jutta Almendinger oder die SPD-Politikerin Aydan Özoguz.
Wir wollten nicht die üblichen Verdächtigen. Männer haben uns doch lange genug die Welt und die Politik erklärt. Jetzt kann es doch mal andersrum sein, dass Frauen anfangen, uns die Welt zu erklären. Das sind ja alles kraftvolle Erzählerinnen, denen man gerne zuhört.
Einer Ihrer Gesprächspartner ist Barack Obama. Wie haben Sie ihn gewinnen können?
Es ist nie leicht, eine Persönlichkeit dieses Kalibers zu verpflichten. Die Zusage von Angela Merkel machte es natürlich leichter.

Was steckt hinter der Dramaturgie von Aussparung und Auslassung?
Ich mag keine Filme, die mir paternalistisch alles vorkauen und sagen, wie ich bestimmte Dinge zu empfinden und zu sehen habe, sondern ich möchte, dass Zuschauer sich ihr eigenes Bild machen, ihre eigene Fantasie und Beurteilungskraft nutzen. Es gab genug Merkel-Filme mit einordnenden Kommentarstimmen und Aufzählung dessen, was in ihrer Amtszeit passierte. Das entbindet mich davon, alles wiederholen zu müssen. Ich will kein Lexikon anbieten, sondern eine subjektive Filmerzählung. Das heißt für mich Dramaturgie der Aussparung.
"Über weite Strecken ist Merkel auch eine ohnmächtige Politikerin"
Angela Merkel galt als Stabilitätsanker. Aber über ihre Rolle bezüglich des Aufstiegs der AfD herrscht Uneinigkeit.
Da gibt es unterschiedliche Ansichten im Film. Der Historiker Herfried Münkler äußert, dass dieses rechtsextreme und rechtpopulistische Potenzial immer in Deutschland existierte, SZ-Journalist Nico Fried sagt entschiedener, dass Frau Merkel zum Aufstieg der AfD beigetragen hat und die Journalistin Kristina Dunz vom RND macht sie dagegen nicht ursächlich oder in erster Linie für das Erstarken der AfD verantwortlich. Auch dazu muss sich der Zuschauer selbst eine Haltung erarbeiten. Angela Merkel wurde als Stabilitätsanker wahrgenommen und war es sicherlich auch. Aber angesichts der sozialen Verwerfungen im Land und der Polarisierung könnte man auch sagen, sie ist eine Stabilitätssimulantin mit unserer aller gnädigen Mithilfe gewesen. Wir haben doch selbst an dieser Wahrnehmung als Stabilitätsanker mitgewirkt.
Liegt das an unserem obrigkeitsstaatlichen Denken?
Ich würde es Restbestände von feudalem Denken nennen. Wir sind halbwegs geübte Demokraten, überlassen das Handeln aber oft der politischen Klasse, auf die wir uns verlassen.
"Merkel steht für die Verkörperung von Stabilität und für einen Moment der Stagnation"
Ist Merkel Macherin oder Visionärin, steht sie für Stabilität oder Stagnation?
Visionärin würde ich nahezu ausschließen, sie hat kein utopisches Denken an den Tag gelegt oder visionäres Denken. Sie ist eine Macherin in dem Sinne, in dem sie sehr komplexe und multilaterale Prozesse auf europäischer Ebene oder Bund-Länder-Ebene behandelt, ausgehandelt oder verhandelt hat, als Kanzlerin von drei großen Koalitionen musste sie permanent in Prozessen denken und handeln. Deshalb ist sie sicherlich eher eine Macherin und Politikerin der kleinen Schritte. So steht sie für beides: für die Verkörperung von Stabilität und für einen Moment der Stagnation. Man darf sich fragen, ob dieses Moment von Stagnation den Menschen in den stürmischen Wandlungsprozessen des 21. Jahrhunderts so etwas wie Halt gibt. Diese so machtvolle Frau war über weite Strecken auch eine sehr ohnmächtige Politikerin, weil sie von so vielen politischen Akteuren eingehegt worden ist in ihrem Machtanspruch.
Als Machtpolitikerin zeigen Sie sie aber nur sehr verhalten.
Man hätte vielleicht stärker nach ihrem Machtwillen fragen. Macht ist ein relativ abstraktes Thema und schwierig zu visualisieren. Das muss sich vermitteln durch Kamerapositionen oder bestimmte ikonische Machtbilder. Wenn sie mit Helmut Kohl in Berlin auf der Brüstung des Kanzleramtes steht und ihm sozusagen Berlin zeigt, dann steckt in diesem Bild unglaublich viel Macht. Sie ist die Hausherrin, die Helmut Kohl empfängt. Oder wenn wir sie im Kabinettssaal des Kanzleramtes interviewen, wenn wir ihren Platz zeigen mit dem Schild Bundeskanzlerin und der Glocke, mit der sie zur Ordnung ruft, hat das mit einem Machtarrangement zu tun.
"Ihre Förderer haben sich alle selbst zerlegt"
Zur Machtfrage: Angela Merkel hat ihre männliche Konkurrenz aus dem Weg geräumt - Kohl, Merz, Schäuble, Röttgen, Koch. Warum kommt das bei Ihnen nur sehr kurz vor? Schauspieler Ulrich Matthes behauptet gar, sie hätte die Herren quasi mit dem Finger nur weggeschubst.
Das wäre ein eigener Film. Ich habe mich jahrelang damit beschäftigt und wir können alle durchbuchstabieren von ihrem ersten Förderer Wolfgang Schnur bis hin zu Helmut Kohl. Sie haben sich alle selbst zerlegt. Den größten Machtwillen hat sie gezeigt, als sie Friedrich Merz sozusagen "abgeräumt" und den Fraktionsvorsitz an sich gerissen hat. Das hat er gerade auch gemacht. Ein ganz normales politisches Machtverhalten. Man hätte ihren Machtwillen, auch ihre Fähigkeit, Macht zu sichern und sich zu behaupten, sicherlich differenzierter darstellen können. Aber diese Mär von der männermordenden Politikerin ist wirklich Unfug. Da bin ich ganz bei Ulrich Matthes.
Wie sind Sie an das Kapitel "Frau Merkel geht nach Washington" herangegangen?
Der Titel ist eine Anspielung auf Frank Capras Klassiker "Mr. Smith geht nach Washington". Einerseits wollte ich die beiden unterschiedlichen Politikertypen Obama und Trump gegenüber stellen und Merkels unterschiedlichen Umgang mit ihnen, andererseits auch ein Stück weit von Angela Merkels Herkunft erzählen und ihrem Traum von Amerika, den sie bereits in der DDR hatte.
Arte, 22. Februar, 20.15 Uhr, außerdem auch am Sonntag, 21.45 Uhr, in der ARD und in den Mediatheken