Im Alter vonn 88 Jahren gestorben: "SZ"-Feuilletonchef Joachim Kaiser ist tot

Ein Kritikerpapst: Joachim Kaiser ist im Alter von 88 Jahren in München verstorben.
Ein hoffnungvoller, von der auf schnelle Euros bedachten Musikindustrie gehypter Pole betritt das Podium des Herkulessaals. Er nimmt sich mit den 24 Preludes von Chopin gleich das Schwerste vor. Nach der ersten dieser Miniaturen, die keine eine halbe Minute dauert, seufzt Joachim Kaiser melancholisch: "Ach ja!".
Knapper konnte es nicht gesagt werden. Am Donnerstag ist der langjährige SZ-Redakteur und Kulturchef Joachim Kaiser in München verstorben. Er blieb bis ins hohe Alter aktiv – und was noch wichtiger ist – begeisterungsfähig. Aber Konzerte besuchte er schon länger nicht mehr: Er litt an Demenz und verbrachte seine letzten Jahre in einem Pflegeheim.
Der meistabgeschriebene Musikkritiker Deutschlands
Auch wenn man anderer Meinung gewesen wäre – Kaisers Klavier- und Chopin-Autorität zählte. Sein vergriffener, in Antiquariaten mittlerweile teuer gehandelter Interpretationsvergleich zu den Klaviersonaten Beethovens ist unübertroffen, die zweibändige Sammlung "Erlebte Musik" ein Klassiker. Da ist es kein Wunder, dass Kaiser als meistabgeschriebener Musikkritiker Deutschlands gilt.
Wir bekennen, ihn vor gut zehn Jahren sogar abgehört zu haben, als ein Russe alle Beethoven-Konzerte in der Philharmonie darbot. Kaiser saß, wie immer mit Partitur und bunten Faserschreibern bewaffnet in der zehnten Reihe. Ein Verehrerin wollte Kaisers Meinung wissen. Er erklärte, der nicht mehr ganz junge Lockenkopf sei eigentlich ein Autist. Da Kaiser so etwas Grobes nie schreiben würde, wurde das treffende Wort für die Abendzeitung erbeutet. Das kommt davon, wenn Veranstalter alle Kritiker in die gleiche Reihe setzen.
Der 1928 als Sohn eines Landarztes im ostpreußischen Miklen geborene Kaiser war eine Institution. Und zwar nicht nur für Musik. Kaiser hat – und das wird heute oft vergessen – immer auch Literatur rezensiert. Auf Einladung von Hans Werner Richter hin durfte er ab 1953 an Veranstaltungen der "Gruppe 47" teilnehmen.
Mit acht Jahren begann er Klavier zu spielen. Im Alter von acht Jahren begann er mit dem Klavierspiel. Das gemeinsame Musizieren mit seiner Familie zählte er später zu seinen glücklichsten Momenten in seinem Leben. Seine journalistische Laufbahn begann mit einer Besprechung von Theodor W. Adornos "Philosophie der Neuen Musik".
Adorno empfahl Kaiser Alfred Andersch vom Hessischen Rundfunk, was wiederum die Frankfurter Hefte aufmerksam machte. Ab 1959 schrieb er für die Süddeutsche Zeitung, der er bis zuletzt treu blieb. Sogar die "New York Times" wollte Kaiser einmal abwerben. Aber er blieb in München, obwohl Wien seine Lieblingsstadt war.
Natürlich konnte man sich über Kaiser auch gewaltig ärgern. Etwa als er 1981 Herbert Wernickes "Fliegenden Holländer" verriss, weil er die brausende See vermisste. Regietheater mochte er weniger. Und an der berüchtigten Unmusikalität des Altoberbürgermeisters Christian Ude ist Kaiser übirgens auch schuld: Der musste in seiner Zeit als Lokalredakteur der SZ durch eine Tür mithören, wie Kaiser seine Kritiken diktierte. Ude lobt ihn in einem seiner Bücher lieber als "grossen Radfahrer", der "bis ins biblische Alter zum Arbeitsplatz und wieder nach Hause strampelte".
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