Fünf Ungereimtheiten des Oktoberfestattentats

26. September 1980: Es ist ein lauer Freitagabend, ein langer Wiesn-Tag neigt sich dem Ende. Scharen von Besuchern strömen auf den Haupteingang zu. Dann, um 22.20 Uhr, leuchtet ein greller Blitz auf, mit dem das dunkelste Kapitel des Münchner Oktoberfests beginnt: In einem Papierkorb explodiert eine Bombe.
Die Splitter zerfetzen menschliche Leiber, auf dem Asphalt bilden sich Blutlachen, in denen abgetrennte Arme und Beine liegen. Die Schreie der Schwerverletzten übertönen die Blasmusik, die noch immer aus den Bierzelten dröhnt. Betrunkene stolpern über Trümmer, manche auch über Leichen. Exakt 1,39 Kilogramm TNT, so stellen die Ermittler später fest, sind in dem Abfalleimer hochgegangen. 13 Menschen sterben, 215 werden verletzt, davon 68 schwer.
Gundolf Köhler als Einzeltäter?
Später schildert ein Mann in einem Dokumentarfilm das Grauen, das ihm zwei Kinder genommen hat. Der Vater sieht zunächst seinen Sohn: "Er hat geblutet, aber ich habe keine Wunde gesehen. Er hat gesagt: 'Papa, mir ist kalt.' Dann hat jemand den Jungen mitgenommen. Dann habe ich weitergesucht und kam an diese Stelle. Hier war ein Bratwurststand. Und da lehnte meine Tochter. Bei ihr war alles offen und herausgerissen. Dann hat sie gesagt: 'Papa, hilf mir, es tut so weh.' Dann hat sie ihre Augen zugemacht und sie war tot."
Trotz des allgemeinen Entsetzens ging die Stadt rasch zur Tagesordnung über, die "Süddeutsche Zeitung" berichtete: "Das Blut ist bereits am nächsten Morgen weggewischt, die von der Detonation in den Boden gerissenen Löcher sind wieder zugeteert. Die Wiesn muss weitergehen, so lautete das Motto. Und auch in der Schuldfrage vertun die Behörden keine Zeit. Ziemlich schnell ist der rechtsradikale Gundolf Köhler als Attentäter ausgemacht, der bei der Explosion selbst stirbt. Ziemlich schnell gilt er den Ermittlern als Einzeltäter."
Damals seien die Ermittler "auf dem rechten Auge blind" gewesen, kritisiert der spätere Opferanwalt Werner Dietrich. Bereits neun Tage nach dem Anschlag fanden Bundestagswahlen statt - mit dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidaten der CDU/CSU. Strauß hatte im finalen Wahlkampf vorschnell die linke Terrororganisation RAF für den Anschlag verantwortlich gemacht und zuvor die rechte Gefahr verharmlost. "Hatte dies Einfluss auf die Zielrichtung der Ermittlungen?", fragte nicht nur der "Spiegel".
Abschlussbericht im Mai 1981
Es ist verblüffend, wie schnell für die Behörden der Alleinschuldige feststand. Bereits im Mai 1981 präsentierten die bayrischen Ermittler ihren Abschlussbericht, an dem auch nach über 34 Jahren große Zweifel bestehen. Nicht zuletzt wegen fünf grober Ungereimtheiten hat die Generalbundesanwaltschaft im Dezember 2014 beschlossen, die Ermittlungen wieder aufzunehmen.
Fünf Ungereimtheiten
1. Rechtsanwalt Werner Dietrich hat die schriftliche Aussage des Augenzeugen Ramin A. vorliegen, nach der der IT-Fachmann mögliche Mittäter gesehen haben will. Koehler habe kurz vor der Explosion mit mehreren Männern heftig diskutiert. Die Polizei habe sich jedoch bei seinem Verhör ausdrücklich nicht für diese Aussage interessiert.
2. Brisant ist nach wie vor die Spur 253: Laut "Spiegel" und Werner Dietrich ist darin dokumentiert, dass die Ermittler die Fälle des Wiesn-Anschlags und des Neonazis Heinz Lembke zusammengeführt, aber nicht weiterverfolgt haben. Schon kurz nach dem Attentat hätten zwei wegen eines Anschlags auf ein Asylbewerberheim im August 1980 inhaftierte Mitglieder der rechtsradikalen "Deutschen Aktionsgruppen" ausgesagt, Lembke habe militärischen Sprengstoff für Anschläge angeboten. Es könnte durchaus auch einen Zusammenhang zur Oktoberfestbombe geben, hätten die beiden durchblicken lassen.
Ein Jahr später habe man durch Zufall tatsächlich Waffen und Sprengstoff bei Lembke, der angeblich Mitglied der rechtsradikalen Wehrsportgruppe Hoffmann war, gefunden. Der inhaftierte Lembke soll noch angekündigt haben, über seine Hintermänner auszupacken, doch am nächsten Tag fanden ihn die Wärter erhängt in seiner Zelle.
Wichtige Zeugin in den neuen Ermittlungen
3. Bereits vor 34 Jahren hatte sich eine Zeugin gemeldet, die beobachtet haben will, wie ein Mann einen Tag nach dem Anschlag Plakate mit einem Nachruf auf Gundolf Koehler in einem Spind deponiert haben soll. Zu diesem Zeitpunkt war nur in Polizeikreisen bekannt, dass Koehler der mutmaßliche Attentäter war. Der junge Mann sei kurz darauf nach Südamerika verschwunden. Und die Zeugin, die damals nicht ernst genommen wurde, spielt in den neuen Ermittlungen wieder eine wichtige Rolle.
4. Wie tief ist der einst bundesweit bekannte Neonazi Karl-Heinz Hoffmann (76) in den Fall verstrickt? Bereits bei den ersten Ermittlungen wurde bekannt, dass der Geologie-Student Gundolf Koehler Anhänger der Wehrsportgruppe Hoffmanns war und selbst eine Ortsgruppe in seinem Wohnort Donaueschingen gründen wollte. Im Januar 2014, so gab Bayerns Landespolizeipräsident Wilhelm Schmidbauer bekannt, sei bei der Kripo in Bamberg eine Anzeige Hoffmanns eingegangen. Sie richte sich "gegen eine Person, die er kennt, und von der er sagt, sie sei Mittäter am Oktoberfestattentat".
Abgerissene Hand am Tatort
5. Welche Rolle spielt eine abgerissene Hand, die am Tatort gefunden wurde? Polizei und Staatsanwaltschaft gingen davon aus, dass das Körperteil zum Attentäter Gundolf Koehler, der unmittelbar neben der explodierenden Bombe stand, gehört habe. Dem widerspricht der ehemalige Sprengstoffexperte des Bundeskriminalamts, Gerd Ester. Dem Journalisten Ulrich Chaussy sagte Ester, der bei den Ermittlungen einen rekonstruierten Sprengsatz zur Explosion gebracht hatte, es könne überhaupt keine Hand Koehlers geben, da die Detonation die Hände des Studenten "atomisiert" hätte.
Laut "Süddeutscher Zeitung" konnte an der aufgefundenen Hand ein Fingerabdruck gesichert werden, der jedoch weder in dem Auto, mit dem Köhler an den Tatort gefahren war, gefunden wurde, noch in seinem Zimmer, "sondern nur an ein paar Studienunterlagen. Für die Ermittler war das dennoch der Beweis, dass die Hand zu Köhler gehört."
Von wem stammte die Hand?
Inzwischen hatte sich eine Frau gemeldet, die zum Zeitpunkt des Attentats Krankenschwester im Oststadt-Klinikum von Hannover war. Auf ihrer Station soll ein junger Mann gelegen haben, dem der rechte Unterarm abgerissen war. Trotz der schweren Verletzung habe er einen munteren, ja gut gelaunten Eindruck gemacht. Offensichtlich wurde er auch von einigen offenbar rechtsradikalen Männern besucht, bevor er nach fünf Tagen verschwand, ohne dass in seiner Wunde die Fäden gezogen worden waren.
Gehörte die am Tatort aufgefundene Hand zu einem Mittäter? Ein DNA-Test könnte darüber Aufschluss geben. Könnte. Denn die Hand von München existiert nicht mehr. Das Asservat wurde 1997 vernichtet, "weil der Fall als aufgeklärt galt", erläuterte ein Sprecher des Generalbundesanwalts.