Die notwendige Nervensäge
Er ist das umstrittene Gewissen der Nation, weil er nicht nur hinschaut, sondern sogar selbst hingeht und erlebt, was wir nicht wahr haben wollen. Heute feiert Günter Wallraff seinen 70. Geburtstag. Seine bekanntesaten Under-Cover-Recherchen:
Für seine Industriereportagen (1963-1965) schuftet er bei einem Autobauer am Fließband, auf den Gerüsten einer Werft, im Akkord an einer Rohrschneidemaschine oder in einem Stahlwerk. Danach beschreibt er die ruinösen Bedingungen der Fabrikarbeit.
Bei der „Bild“-Zeitung heuert Wallraff 1977 verdeckt als Hans Esser an, arbeitet in Hannover und schildert in „Der Aufmacher“ unsaubere Recherchemethoden. Das Buch wird ein Bestseller.
Als Türke Ali verrichtet der vermeintliche Gastarbeiter schwere, teils gefährliche Jobs für geringen Lohn, wird schikaniert. Die Erfahrungen schildert Wallraff 1985 in „Ganz unten“. Das Buch wird millionenfach verkauft und in mehr als 30 Sprachen übersetzt.
Als Callcenter-Mitarbeiter Michael drangsaliert er im Jahr 2007 Anrufer, bis sie ihm Systemlottoscheine abkaufen. Wallraff zeigt auch den Psychodruck, unter dem Callcenter-Agenten stehen, die nicht selten mit Nervenzusammenbruch, Burn-Out und Drogenmissbrauch kämpften.
In einer Backfabrik 2008 im Hunsrück arbeitet der Journalisten inkognito, berichtet später über Sicherheitsmängel, massive Hygienedefizite und schlechte Bezahlung.
Als Obdachloser lebt Wallraff im Winter 2008/2009 in mehreren Städten auf der Straße und in Heimen, um auf deren Schicksal hinzuweisen.
Als Somalier spürt der Autor 2009 offenen und verdeckten Rassismus in unserer Gesellschaft auf – auf dem Campingplatz, im Stadion, bei der Wohnungssuche oder in der Kneipe.
Beim Paketzusteller GLS prangert Wallraff im Mai 2012 modernes Sklaventum und „Menschschinderei mit System“ an. Nach monatelangen Undercover-Recherchen als Bote kritisierte er Arbeitszeiten von bis zu 15 Stunden ohne Pause für von drei bis fünf Euro pro Stunde.
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