Der Seelenklempner für jeden psychischen Rohrbruch

Seit 20 Jahren hört sich „Domian“ die Probleme fremder Menschen an. Jetzt hat der Gottvater des Radiotalks seinen Abschied angekündigt. Hier weint ihm AZ-Redakteur Timo Lokoschat hinterher.
von  Timo Lokoschat
Headset, Hemd, Hirsch: Moderator Jürgen Domian (57) in seinem schlichten und winzigen Kölner Studio. Von hier aus wird seine Sendung seit 20 Jahren im Radio auf EinsLive und parallel im WDR-Fernsehen übertragen. Ende 2016 soll Schluss sein. Domian will „häufiger die Morgensonne sehen“.
Headset, Hemd, Hirsch: Moderator Jürgen Domian (57) in seinem schlichten und winzigen Kölner Studio. Von hier aus wird seine Sendung seit 20 Jahren im Radio auf EinsLive und parallel im WDR-Fernsehen übertragen. Ende 2016 soll Schluss sein. Domian will „häufiger die Morgensonne sehen“. © WDR

Was haben Sie am 10. März 1999 zwischen 1 und 2 Uhr nachts gemacht? Würde mir die Polizei in einem Verhör die Tischlampe ins Gesicht drehen und diese Frage stellen, müsste ich keine Sekunde überlegen: „Ich habe Domian geschaut!“

Seit 16 Jahren gehöre ich zur treuen Fangemeinde des Moderators, der sich täglich zwischen 1 und 2 Uhr die Probleme fremder Menschen anhört, habe zwar immer mal wieder Pausen eingelegt, manchmal aber monatelang keine einzige Sendung verpasst.

Ein Ritual vor dem Zubettgehen, das ich mit über Hunderttausend weiteren Menschen teile, die die Sendung am Radio oder Fernseher verfolgen. Und das mich zugegebenermaßen zum chronisch unausgeschlafenen Menschen macht. Zu aufwühlend, zu verstörend, zu lustig sind die Geschichten und Schicksale, denen sich Jürgen Domian, dessen Nachnamen die Zuschauer wie einen Vornamen verwenden, 60 Minuten lang widmet. Sofort einschlafen? Unmöglich. Albträume? Ja.

Sechs bis sieben Anrufer pro Sendung werden von der Redaktion durchgestellt – 20 000 waren es bislang. „Am Telefon begrüße ich jetzt Ingo, 42 Jahre. Ingo, worüber sprechen wir?“ Ein typischer Gesprächsanfang. Dann kann alles kommen. Und alles heißt: ALLES!

In der Sendung heute Morgen ruft Viola an, deren Sohn ein Kinderschänder ist („Ich hasse ihn“). Danach berichtet Ingrid, sie habe vor wenigen Stunden ihren Mann tot in der Wohnung aufgefunden. Und am Ende ist Hans dran, der – vergleichsweise banal – einfach nur Liebeskummer hat und nicht checkt, dass die Angebetete nichts von ihm wissen will. „Hans, sie will dich nicht“, sagt Domian am Ende fast schon genervt. Und bei Hans fällt der Groschen.

Egal, welches Thema: Allen Anrufern ist gemeinsam, dass sie Domian vertrauen. Sie schütten dem Mann, den sie eigentlich gar nicht kennen, ihr Herz aus, vertrauen ihm Dinge an, die sie oft noch keinem anderen Menschen erzählt haben. Dafür müssen sie damit leben, dass Domian ihnen nicht nach dem Mund redet, sondern auch mal schimpft, tadelt und unbequeme Wahrheiten ausspricht – ohne in nerviges Betroffenheits-Gesäusel abzudriften.

Monströses folgt auf Heiteres, und während sich die Zuschauer oft erst einmal sammeln müssen, ist Domian sofort bei der Sache: Ein Seelenklempner für wirklich jeden psychischen Wasserrohrbruch.

Er hört sich seelenruhig die Geschichte von Edwin, 26, an, der einen Fleisch-Fetisch hat (siehe unten), er kämpft – unterstützt von einer Psychologin, die direkt nach dem Gespräch übernimmt – um das Leben eines selbstmordgefährdeten Teenagers. Er weint mit dem alten Mann ohne Gesicht, der sein komplettes Dasein in die Nacht verlegt hat. Er führt den Neonazi vor. Er telefoniert mit dem Häftling, der ein Handy in die Zelle geschmuggelt hat. Er hat den eingebildeten Außerirdischen am Ohr. Ach, Domian...

Seit er seinen Abschied angekündigt hat, wissen wir endlich, wie sich junge Mädchen in den 90ern gefühlt haben, als die Boyband „Take That“ ihre Auflösung bekannt gab. Schlimm.

Apropos: Vielleicht kehrt unser Superstar Domian ja ebenfalls irgendwann zurück. Und bis dahin? Holen wir etwas Schlaf nach. Gute Nacht!
 

Drei kuriose Gespräche

Der Klassiker ist unbestritten der „Mett-Mann“: Edwin (26) kauft sich ein Mal im Monat beim Metzger seines Vertrauens um die 60 Kilo Mett. Daraus forme er einen Frauenkörper, an dem er sich reibe. Das Hackfleisch sei so „unberührt“, erklärt er seine Faszination. Eine solche Aktion koste ihn jedes Mal 800 D-Mark. Journalisten Domian hakt investigativ nach: „Bevorzugst du Rind oder Schwein?“ 

Nicole (29) macht Domian richtig wütend: Seit sie 16 sei, empfange sie Sozialhilfe, habe keine „Lust zu arbeiten“. Zu Vorstellungsgesprächen gehe sie im „Jogger mit fettigem Haar“. „Völlig daneben“, findet Domian und kündigt eine Anzeige an.

Ruth (50) lebt in einer festen Beziehung mit ihrer Jukebox. Sie ist „objektophil“, verliebt sich nicht in Menschen, sondern in Gegenstände. Ihr Ex: der alte Fernsehapparat der Eltern.

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