"Wie in einer Blase": Kittel auf Tour-Rekordjagd

Peyragudes - Übermütig wurde Marcel Kittel im Angesicht der Pyrenäen keineswegs. Dass der Sprint-König der 104. Tour de France sich auf einer Bergetappe als Ausreißer probierte, hatte mit Größenwahn nichts zu tun. Kittel sicherte im Zwischensprint am Donnerstag sein Grünes Trikot ab, er möchte es ja gerne bis Paris behalten. "Ich habe mich nie besser gefühlt", sagt er über seine Verfassung - und deshalb ist nun auch dieses begehrte Stück Stoff ernsthaft in seinen Fokus gerückt.
"Alles andere wäre Quatsch", betont Kittel. Die Zurückhaltung hat er angesichts von weit über 100 Zählern Vorsprung auf den Australier Michael Matthews abgelegt. Keiner sieht einen Grund, warum der Tour-Rekordetappenjäger das "Maillot vert" nicht auf die Avenue des Champs Élysées tragen sollte. Erik Zabel hatte vor 16 Jahren als letzter deutscher Radprofi in Grün auf dem Podium gestanden.
"Ich bin noch wie in einer Blase"
Für die inzwischen fünf Triumphe nach gut der Hälfte der Frankreich-Rundfahrt findet Kittel kaum Worte: "Wahnsinn", sagt Kittel, "ich bin noch wie in einer Blase. Das ist ja nicht irgendein Rennen, das ist die Tour de France." Erst hatte er in Bergerac am Dienstag den Etappenrekord von Zabel übertroffen, dann jenen von Dietrich Thurau für die meisten deutschen Siege bei einer Tour am Mittwoch in Pau egalisiert.
Zabel hatte sich mit dem Verlust seiner Bestmarke schnell abgefunden - auch mit Kittel als Nachfolger kann er sich bestens arrangieren. "Der Junge sieht gut aus, er ist der Typ, den jede Mutter gerne als Schwiegersohn hätte. Und er kann fünf Sätze geradeaus sprechen", schwärmte Zabel über den nun 14-maligen Tour-Etappensieger.
"Er ist von einem anderen Planeten"
Gerade seine Außenwirkung macht Kittel in dieser Zeit besonders für den deutschen Radsport. Der Thüringer ist eine Art Vorbild mit seinem charmanten und höflichen Auftreten, mit seiner in jeder Beziehung klaren Haltung. Bei dieser Tour erntet Kittel üppig für die jahrelange Aufbauarbeit, für das Ringen um neues Vertrauen. Er weiß, dass dies ein kostbares Gut ist.
Die Sorgen seiner Gegner kümmern ihn kaum. "Das Gegenmittel für den Kittel, das muss nicht ich, das müssen die anderen finden", sagt er entspannt. Ein Ende der Erfolgssträhne ist in der Tat nicht absehbar, wenn er die Berge unbeschadet übersteht. "Er ist von einem anderen Planeten", sagt Landsmann John Degenkolb.
Dass Kittel dieses neue Niveau erreicht hat, ist nicht selbstverständlich. 2015 durchlebte er beim damaligen Team Giant-Alpecin ein Seuchenjahr, eine Viruserkrankung und in der Folge die Tour-Ausbootung hatten ihn an vielen Dingen zweifeln lassen. "In einer Karriere gibt es immer Hochs und Tiefs. Aber am Ende zählt, dass ich dieses Level und diese Siege wieder erreicht habe", sagt Kittel.
Er fand zurück, weil die Balance in sein Leben zurückkehrte - auch das Winterquartier im klimatisch angenehmen spanischen Girona half ihm. Sein Manager Jörg Werner hatte Anteil, seine Eltern hatten Anteil, und seine niederländische Freundin Tess van Piekartz. Kittel bezeichnet sie nicht umsonst als "Ruhepol", bei ihr findet er den Ausgleich, den er braucht. Denn Kittel, und auch das macht aus ihm einen außergewöhnlichen Fahrer, definiert sich nicht ausschließlich über den Radsport.
Kittel braucht die Freiheit, das Rad auch mal in die Ecke stellen zu können, er braucht diese Phasen, um auf andere Gedanken zu kommen, um sich dann auch zu motivieren für das harte Grundlagentraining im Winter. Um in den vielen Stunden abseits der medialen Aufmerksamkeit die Basis für das zu legen, was bei dieser Frankreich-Rundfahrt zu Tage tritt.